Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
von oben bis unten gemustert hatte, hob er schließlich die Schultern und versetzte gleichgültig: »Er ist nicht hier. Meist kommt er nicht vor Mitternacht.« Er schürzte vorwurfsvoll die Lippen. »Meine Frau muss oft aufstehen, um ihm das äußere Tor zu öffnen.«
Da Wulf keinerlei Interesse an dem Gejammer des Herbergsbesitzers hatte, bedankte er sich knapp und wollte sich gerade nach Süden wenden, als der Wirt mürrisch hinzusetzte: »Vermutlich ist er auf dem Pferdemarkt, wie alle anderen!« Damit knallte er dem jungen Mann die Tür vor der Nase zu und stampfte lautstarke Verwünschungen ausstoßend zurück ins Innere der Taverne.
Natürlich!, dachte Wulf mit einem Kopfschütteln. Warum war er nicht selber auf diese Idee gekommen? Seit Tagen redete kaum jemand mehr von etwas anderem. Sein Puls beschleunigte sich, als er entschlossen die Schultern straffte und den Weg zur Donauinsel einschlug. Sicherlich trieb Ortwin sich auch dort herum. Die Aufregung unterdrückend, hastete er durch die Gassen und reihte sich in die zäh fließende Schlange ein, die sich im Schneckentempo über die Herdbrücke schob. Eingekeilt zwischen feinen Herren und Damen, Knappen, Pferdeknechten und Bürgern jeden Standes näherte er sich der Donauinsel, auf der ein solch buntes Treiben herrschte, dass er beinahe sein Vorhaben vergaß. Etwa auf der Mitte der Brücke vermischten sich die Gerüche der Stadt mit den Düften der Lebensmittelstände, die in einer schweren Wolke das Aroma von Honig, Gewürzen und Backwaren verbreiteten. Je näher er dem Markt kam, desto öfter fielen ihm die teils verdutzten, teils fragenden Blicke einiger Ritter auf, die ihn mit unverhohlener Neugier anstarrten. Einer der Männer, auf dessen Brust ein silberner Elefant prangte, gaffte ihm gar mit offenem Mund hinterher, bevor er abrupt einen Haken nach rechts schlug und eiligst zur Bürgerwiese drängte. Seltsam, dachte Wulf befremdet und blickte dem sich entfernenden Rücken hinterher, bis die Menge ihn verschluckt hatte. Irgendwoher kam ihm das Wappen des Ritters bekannt vor. Er wollte sich gerade das Gehirn zermartern, wo er den auf feuerrotem Grund schreitenden Elefanten schon einmal gesehen hatte, als der Pulk, in dem er eingekeilt war, den Fuß der Brücke erreichte und auseinanderlief wie geschmolzenes Fett.
Hilflos blickte sich der junge Mann um, während er in einer Gruppe Knechte in Richtung Koppeln mitschwamm. Dort löste sich der Haufen scherzend und lachend auf, was zur Folge hatte, dass Wulf sich wie durch Zauberhand allein neben einem leeren Gatter wiederfand, dessen aufgewühlter Boden verriet, dass hier noch vor Kurzem Pferde geweidet hatten. Wo sollte er anfangen zu suchen?
Dankbar für die Gelegenheit, Atem zu schöpfen, setzte er den Fuß auf eine der Zaunlatten und zog sich an einem knorrigen Birnbaum in die Höhe. So – mehr als eine halbe Mannslänge über dem Geschehen – suchte er das vollkommen überlaufene Areal mit den Augen ab, gab nach kurzer Zeit jedoch entmutigt auf. In diesem Durcheinander würde er Ortwin niemals finden. Und selbst wenn, dann konnte er ihn auf keinen Fall inmitten all der hohen Herren, deren kunterbunte Banner an Zeltspitzen und Standarten wehten, zur Rede stellen. Mit einem Stirnrunzeln glitt er zurück auf den Boden und trottete mit gesenktem Kopf in Richtung Ufer, wo sich dichte Mückenschwärme vor ihm teilten, um ihn sofort tanzend zu umschließen. Ein wenig Ruhe würde ihm helfen, seine Gedanken zu ordnen. Und da der Strom der Schaulustigen in die entgegengesetzte Richtung floss, versprach die schattige Böschung eine Atempause von dem Gewühl. Er vertrieb einen der Blutsauger, der sich frech auf seinem Unterarm niederlassen wollte. Beklommen duckte er sich unter einem tief hängenden Ast hindurch und wollte sich gerade auf einen flachen Stein fallen lassen, als ein Schreckensschrei an sein Ohr drang. Diesem folgte ein heftiges Platschen – beinahe als schlüge jemand mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche.
Obschon es sich vermutlich um das Spiel übermütiger Kinder handelte, stutzte Wulf und näherte sich der sanften Flussbiegung, hinter der er die Quelle der Geräusche vermutete. Mit jedem Schritt sank er tiefer in den aufgeschwemmten Ufersand ein. Er wollte gerade unverrichteter Dinge umkehren, als ihm bei dem Anblick, der sich ihm bot, das Blut in den Adern gefror. Tief über sein Opfer gebeugt, drückte ein mit einer Kapuze verhüllter Kerl den Kopf einer Frau unter Wasser, deren
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