Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
mit ihr angefangen hätten, wenn ihre Flucht entdeckt worden wäre, ließ sie bebend die Arme um den Körper schlingen. Mehr als einmal hatte sie im Laufe des ewig scheinenden Tages vermeint, zornige Stimmen und schwere Tritte zu vernehmen. Doch jedes Mal, wenn sie sich mit rasendem Herzschlag hinter einen Abfallhaufen oder Kistenstapel geduckt hatte, hatten sich diese Geräusche als Ausgeburten ihrer Fantasie entpuppt. Ärgerlich über ihre Hasenfüßigkeit zog sie den löchrigen Überwurf der Köchin enger. Es konnte nicht mehr weit sein! Während sich ihre Füße vorsichtig den unebenen Boden entlangtasteten, kehrten ihre Gedanken zum Morgen zurück.
Nachdem es ihr in allerletzter Sekunde gelungen war, sich durch die Bretter des Holzschuppens ins Freie zu zwängen, war sie wie von Furien gehetzt davongerannt und hatte erst haltgemacht, als sie das Stechen in ihrer Seite dazu gezwungen hatte. Verängstigt und niedergeschlagen hatte sie gegen die Versuchung angekämpft, den Schutz ihres Vaters zu suchen, da sie fürchten musste, dass dieser sie augenblicklich an Ortwin weiterreichen würde. Als wäre die Sorge um Wulf und das eigene Leben nicht genug, hatten sie zudem heftige Schuldgefühle gequält. Was, wenn Gott seinen Zorn an ihrem kranken Bruder ausließ? Hatte sie nicht versprochen, Ortwins Frau zu werden, wenn er den Jungen heilte? Mehr als einmal war sie kurz davor gewesen umzukehren, hatte gewünscht, ihre Flucht ungeschehen machen zu können; doch dann hatte ein anderer Teil von ihr sie eine Närrin gescholten. Hatten die Blicke des Arztes nicht mehr gesagt als alle Worte es je gekonnt hätten? Und hatte der Gott, an den Brigitta ihr ganzes Leben geglaubt hatte, nicht in den letzten Wochen gezeigt, wie grausam er sein konnte?! Nachdem sie sich stundenlang mit Zweifeln und Vorwürfen gemartert hatte, hatte sie schließlich müde und hungrig beschlossen, Clementine um Beistand anzuflehen – denn etwas, das sie bei ihrem letzten Besuch in den Augen der Schwester gelesen hatte, hatte ihr gesagt, dass diese ihre Notlage besser verstehen konnte als irgendjemand sonst.
Als endlich die dunklen Umrisse des Spitals vor ihr auftauchten, atmete sie erleichtert auf. Vorsichtig, um von dem Bruder, der das von zwei Fackeln beleuchtete Tor bewachte, nicht entdeckt zu werden, schlich sie geduckt an der Mauer entlang. Sie kroch unter einem der die Koppeln des Klosters umfangenden Zäune hindurch und stakste durch das feuchte Gras. Mehr als einmal wäre sie um ein Haar mit einem der auf der Weide gebliebenen Schafe zusammengeprallt, doch das leise Blöken der trägen Tiere ließ sie rechtzeitig ausweichen.
Auf leisen Sohlen näherte sie sich dem Kapellenturm, dessen Dach im Mondlicht silbern schimmerte. Wenn ihr Gedächtnis sie nicht foppte, verbarg sich zwischen dem an die kleine Kirche angrenzenden Narrenhäuslein und dem Wohnbau der armen Pfründner eine Luke, durch welche das Brennholz und die Holzkohle in den Keller des Spitals gelangten. Als der Schatten der hohen Mauer sie verschluckt hatte, hielt sie einen Moment inne und horchte in die Nacht. Außer dem Zirpen der Grillen und den Geräuschen der Schafe unterbrach kein Laut die Stille, sodass sie es schließlich wagte, sich auf die Knie fallen zu lassen und mit den Händen nach dem Eingang zu suchen. Auf keinen Fall durften die anderen Brüder und Schwestern des Heilig-Geist-Ordens von ihrer Anwesenheit erfahren, da sich Neuigkeiten in der Stadt mit der Geschwindigkeit eines Lauffeuers verbreiteten. Inzwischen wusste sicherlich halb Ulm, dass die Pest Einzug in Ulrich von Ensingens Haus gehalten hatte, und unter keinen Umständen wollte sie die Aufmerksamkeit des Abtes oder des Spitalmeisters auf sich lenken. War sie erst einmal innerhalb der Klostermauern, konnte sie dessen Schutz in Anspruch nehmen – doch solange sie sich außerhalb der Anlage befand, konnte ihr der Zutritt verweigert werden. Endlich – nach etlichen Begegnungen mit halb getrocknetem Schafdung – fand ihre Hand einen hölzernen Laden, der sich mit einem kreischenden Geräusch öffnen ließ. Ein Laut aus der vor ihr gähnenden, tintigen Schwärze ließ sie erschrocken verharren, doch als weder Lichtkegel noch Stimmen die Anwesenheit von Menschen verrieten, forschte sie mutig weiter. Langsam schoben sich ihre Finger über das raue Holz in die Öffnung, doch als sie unvermittelt auf kühles Eisen stießen, sank ihr Mut. Jemand musste die Luke seit dem letzten Winter vergittert haben!, dachte
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