Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Ensingen vor dem Bettkasten ihres jüngsten Sohnes zusammengebrochen. Unverständliche Worte murmelnd schob sie soeben die zitternden Hände unter seinen abgemagerten Leib und wiegte ihn hin und her, bevor sie sein schweißnasses Gesicht an ihre Brust drückte. Immer und immer wieder beugte sie sich dabei über ihn und übersäte den blonden Schopf mit Küssen. Trotz des Grolls, den sie gegen ihre Mutter hegte, wurde Brigitta bei diesem Anblick das Herz in der Brust schwer. Da auch sie erfüllt war von Trauer über den vermutlich nicht mehr abwendbaren Tod ihres kleinen Bruders, konnte sie erahnen, wie sehr der drohende Verlust Anna schmerzen musste. Und obschon sie die innerlichen Bande zerschnitten hatte, die sie als Kind zu ihrer Mutter geknüpft hatte, trat sie nach kurzem Zögern hinter die gebrochene Frau und legte ihr tröstend die Hand auf den bebenden Rücken.
Einige Zeit lang verharrte sie hilflos, bevor sie sich von der inzwischen zur Reglosigkeit erstarrten Gestalt abwandte und hinaus in den Gang trat. Die Pest! Kalte Furcht kroch in ihre Glieder. Obschon sie einige Jahre nach dem letzten Ausbruch der Seuche geboren worden war, hatte sie genügend grauenvolle Geschichten gehört, um zu wissen, was ihrem Haushalt vermutlich bevorstand. Sie verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. Was hätte sie noch gestern darum gegeben, Ortwin vom Haus ihres Vaters fernhalten zu können! Das freudlose Lachen, das sich einen Weg an die Oberfläche bahnen wollte, erstarb in einem Stöhnen. Vierzig Tage! Vierzig Tage, die sie unter einem Dach mit dem Tod verbringen musste – ohne Hoffnung auf Rettung oder Hilfe von außen. Vierzig Tage, die sie tatenlos darauf warten musste, entweder selbst an der Pest zu erkranken oder die Mitglieder ihrer Familie einen qualvollen Tod sterben zu sehen. Sie lehnte den Rücken gegen die Wand und atmete tief durch. Und vierzig Tage, die sie ohne jegliche Möglichkeit, etwas über Wulfs Schicksal zu erfahren, in Angst und Schrecken zubringen musste. Sie schloss die Augen und beschwor die Erinnerung an sein Gesicht, seine Berührung und seine sanfte Stimme herauf. Nein! So lange konnte sie nicht ausharren!
Als habe jemand die niederdrückende Mutlosigkeit von ihr genommen, stieß sie sich von dem rauen Stein ab, straffte die Schultern und hastete in ihre Kammer. Dort packte sie mit fliegenden Fingern ihre wenigen Habseligkeiten in ein Bündel, band sich ein Tuch unters Kinn und beschmutzte ihr Gesicht mit dem Ruß eines Kerzendochtes. Nachdem sie ihr Haar unter einer steifen, weißen Haube aus dem Zimmer ihrer Mutter verborgen hatte, huschte sie in die Küche, stahl einen der löchrigen Umhänge der Köchin und näherte sich mit dem Herz in der Kehle der Tür zum Hof. So – als arme Frau verkleidet – würde niemand auf die Idee kommen, dass sie die Tochter eines der wohlhabendsten Bürger der Stadt war. Und selbst wenn einer der Stadtwächter ihre Flucht entdecken sollte, konnte sie in diesem Aufzug im Bruchteil eines Augenblicks in der Menge untertauchen.
Im Durchgang zum Hof angekommen blickte sie sich zögernd um, bevor sie – in den Schatten des Hauses geduckt – in Richtung Holzschuppen huschte. Ein plötzlich einsetzendes Hämmern ließ sie zusammenzucken. Kaum hatte sie begriffen, dass es die Männer der Wache waren, die Türen und Fenster vernagelten, mahnte sie sich zur Eile und schlich weiter. Sie hatte gerade die Tür des Holzschuppens erreicht, als zwei schwer bewaffnete Wächter in den Hof eindrangen und begannen, die Ställe, die Badestube und das Waschhaus zu durchsuchen. Mit einem stillen Stoßgebet drückte sie sich durch den schmalen Spalt – darauf bedacht, ein Quietschen der Angeln zu vermeiden – und kroch zwischen zwei mannshohe Stapel Feuerholz. Ihre Finger schoben sich fahrig unter ein loses Brett in der Rückwand des Schuppens, als sich polternde Schritte näherten.
»Ich sehe hier drin nach«, dröhnte eine tiefe Stimme, und kurz darauf fiel ein Lichtstreifen auf den festgestampften Lehmboden.
Kapitel 26
Ulm, 25. Juni 1368
Die Sonne hatte bereits ihre volle Kraft entwickelt, als am vierten Tag von Wulf Steinhauers Gefangenschaft sechs bis an die Zähne bewaffnete Männer das Zelt betraten und ihn schweigend losbanden. Wortlos zwang ihm einer der Ritter eine Kelle Wasser zwischen die Zähne, bevor er ihm die Kleider, die man ihm bei seiner Ankunft abgenommen hatte, vor die Füße warf.
»Anziehen!«, brummte er, und als Wulf keinerlei Anstalten
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