Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
sie enttäuscht und wollte sich gerade zurückziehen, als sich mit einem plötzlich einsetzenden Heulen eine Klaue um ihr Handgelenk schloss. Heißer Schrecken durchfuhr sie und nur mit äußerster Mühe unterdrückte sie den Schrei, der über ihre Lippen wollte. Unverständliches Gebrabbel begleitete grapschendes Tasten, und als sich feuchte Lippen auf ihren Handrücken drückten, gelang es Brigitta, sich mit einem Ruck zu befreien.
Mit bis zum Hals klopfendem Herzen sank sie ins Gras und massierte die schmerzende Stelle. Das Narrenhäuslein! Sie musste im Dunkeln zu weit nach rechts geraten sein, so- dass sie, anstatt sich der Luke zu nähern, das Gefängnis der Geisteskranken erreicht hatte. Die Erinnerung an die schaurigen Fratzen ließ sie trotz der lauen Nacht frösteln. Es dauerte einige Minuten, bevor sie sich so weit gefasst hatte, dass sie ihre Suche fortsetzen konnte. Doch als sie endlich das richtige Loch in der Mauer ertastet hatte, erwartete sie ein weiterer Schock. Sie hatte gerade die Füße in die Öffnung gesteckt, um sich in den Keller gleiten zu lassen, als sie auf etwas Weiches stieß, das sie – begleitet von einem geflüsterten Fluch – mit ungeahnter Kraft zurück nach draußen beförderte. Unsanft landete sie in dem Moment auf dem Hinterteil, in dem sich eine breite Gestalt durch die Luke schob, die sich auf sie stürzte und ihr die Hand auf den Mund presste. »Schhhhh«, zischte der Unbekannte dicht an ihrem Ohr. »Keinen Ton!«
Starr vor Entsetzen rang Brigitta um Atem, und als sich eine zweite, schmalere Figur ins Freie zog, nutzte sie die Ablenkung, um ihrem Bewacher einen Tritt gegen das Bein zu versetzen. Der Mond, der hinter einer Wolke verschwunden war, wählte diesen Augenblick, um erneut sein Gesicht zu zeigen, und der geflüsterte Ausruf, den die zuletzt aufgetauchte Gestalt ausstieß, zügelte ihren Fluchttrieb.
»Brigitta?!« Die wohlbekannte Stimme ließ sie mitten in der Bewegung erstarren. »Brigitta, was tust du hier?« Clementines weit aufgerissene Augen schimmerten in dem fahlen Licht, das ihre Züge gespenstisch beleuchtete. »Ich dachte, du seist mit den anderen eingesperrt«, setzte sie wispernd hinzu und runzelte die Stirn.
Also war die Nachricht, wie vermutet, bereits ins Heilig-Geist-Spital vorgedrungen! Brigitta verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. »Kaspar«, hub sie an, doch Clementine schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß«, versetzte sie gedrückt. »Er wird morgen beigesetzt.«
Brigitta schlug traurig die Augen nieder. Also war es bereits zu spät für Bittgebete. »Wir können nicht hierbleiben«, mischte sich Clementines Begleiter, in dem Brigitta den Bruder Thomas vermutete, ungeduldig ein. »Du weißt, dass der Prior die Ohren eines Luchses hat«, ermahnte er Clementine und legte besitzergreifend den Arm um ihre Schultern. »Entweder sie kommt mit uns oder sie bleibt hier. Aber wir müssen so schnell wie möglich fort! Was immer es ist, das ihr besprechen müsst, es kann warten, bis wir aus der Stadt sind.«
Einen Augenblick schwieg Clementine, bevor sie ihren viel zu großen Umhang abnahm und ihn Brigitta in die Hand drückte. Sie selbst zog den breitkrempigen Hut tiefer ins Gesicht und zupfte an ihrem Ärmelrock herum.
»Bitte helft mir«, flüsterte Brigitta, während sie sich in das muffig riechende Kleidungsstück hüllte. »Ich weiß nicht, wo ich bleiben soll. Wenn die Wächter mich erwischen …« Ihre Stimme erstarb.
Ohne lange zu fackeln griff der Bruder sowohl nach ihrer als auch nach Clementines Hand und zog die beiden Frauen auf das östliche Ende der Weide zu, wo sie an einer Reihe Büsche entlang in Richtung Stadttor schlichen. Kurz bevor sie die schwer bewaffneten Torwachen erreichten, fischte er eine Klapper aus den Falten seines Gewandes, stülpte Handschuhe über und begann, die drei Hölzer aneinanderzuschlagen. Kaum vernahmen die Soldaten das Geräusch, wichen sie wie von einer Schlange gebissen zurück und ließen die drei als Aussätzige Verkleideten durch ein kleines Tor passieren, das sie hastig aufstießen.
»Das nächste Mal verzieht ihr euch vor Einbruch der Nacht«, bellte einer der Männer hinter ihnen her, doch außer den daraufhin einsetzenden Schmährufen folgte ihnen nichts.
Deutlich zeichneten sich die das Donauufer säumenden Pappeln und Weiden ab, und nachdem die drei etwa eine Meile weit gelaufen waren, bat Clementine ihren Begleiter schließlich um eine Pause. Erschöpft von der schnellen Flucht
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