Das Erbe der Halblinge: Roman (German Edition)
schwebte über dieser Lichtung und schien beinahe alles Sonnenlicht zu schlucken. Nur hier und da schimmerte etwas davon hindurch. Aber auch die wenigen Strahlen, die es schafften hindurchzudringen, wurden teilweise urplötzlich unterbrochen, so als stünde ihnen irgendetwas im Weg. Etwas, das unsichtbar, aber undurchdringlich war.
Lirandil schritt als Erster auf die Lichtung. Seine Augen hatten jetzt intensiv zu leuchten angefangen, wie es seit den Ereignissen am Asanil-Turm immer wieder bei ihm zu beobachten gewesen war.
»W as hältst du davon, Dunkelalb?«, wandte sich Whuon an Brogandas.
»W arum fragst du nicht deinen Lehrer?«, erwiderte der Angesprochene spöttisch.
»I ch bin mir nicht sicher, ob Lirandil im Moment wirklich ansprechbar ist«, erklärte der Schwertkämpfer.
»N un, jedenfalls ist dies hier eindeutig ein Ort, an dem starke Magie gewirkt wurde… Eine Magie, wie man sie selten zu spüren bekommt.« Der Dunkelalb hob das Gesicht, verengte die Augen und sog die Luft ein, wie ein Tier, das Witterung aufnahm. Die Runen auf seinem Kopf veränderten sich in so rascher Folge, dass der Eindruck andauernder Bewegung und Unruhe entstand. »S ehr alte Magie…«, flüsterte er dann und fügte ein paar Worte auf Dunkelalbisch hinzu, die von den anderen niemand verstand. Ob das irgendeine Formel war, mit der er sich vorsorglich gegen magische Einflüsse jedweder Art schützen wollte, oder ob Brogandas einfach nur aus purer Ergriffenheit in seine Muttersprache verfallen war, konnte man schwer beurteilen. Dann fuhr er auf Relinga fort: »V ielleicht begreift Ihr jetzt und hier, was der Unterschied zwischen jemandem wie Lirandil oder meinetwegen auch mir und Euch ist, Whuon.«
»I ch habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»I hr wollt die Magie erlernen. Alles darüber erfahren und sie verstehen. Aber Ihr spürt sie nicht. Eure Sinne sind in dieser Hinsicht offenbar vollkommen tot.« Er zuckte mit den Schultern. »D as ist dann so ähnlich, als wenn ein Blinder verstehen will, was Malerei ist. Scheint, als hättet Ihr Euch da einiges vorgenommen.«
»M ir ist das Ganze nicht geheuer«, gab Zalea inzwischen ihrem Unbehagen Ausdruck.
»L irandil weiß schon, was er tut«, meinte Borro so übertrieben gelassen, dass jedem sofort klar sein musste, dass das mit seinen wahren Empfindungen nicht das Geringste zu tun hatte.
»I ch will’s hoffen«, murmelte Zalea.
»Z u dumm, dass Neldo nicht dabei ist. Die paar Meilen hätte er doch noch durchhalten können, findest du nicht? Danach hätten wir ja gerne zusammen einen kleinen Abstecher zu Gomlos Baum machen können. Ich wäre sofort dabei gewesen. Aber jetzt…«
»B orro!«
»… jetzt weiß ich auch nicht, was nun…«
»B orro!«, wiederholte Zalea. Diesmal energischer.
»J a?«
»I ch glaube, wir werden für lange Zeit keine Gelegenheit bekommen, irgendwohin zurückzukehren. Und ich fürchte, wir werden Neldo auch eine ganze Weile nicht wiedersehen.«
Borro strich sich das rote, einfach nicht zu bändigende Haar zurück und blieb stehen. Mit der einen Hand hielt er sein Pferd am Zügel, mit der anderen stützte er sich auf seinen Bogen. »K ann schon sein, dass du da recht haben wirst«, gab er zu.
Lirandil machte den anderen inzwischen mit einem Handzeichen, das nicht misszuverstehen war, deutlich, dass sie etwas zurückbleiben sollten.
Er breitete dann die Arme aus und rief eine Formel in einer uralten Form der Elbensprache. Aus seinen Augen schossen hellblaue Strahlen heraus, die gegen einen unsichtbaren Widerstand stießen. Im nächsten Augenblick erschien wie aus dem Nichts ein Baum– größer als jeder Baum, den Arvan oder die Halblinge je gesehen hatten. Er ragte so hoch über die ohnehin sehr hohen Wipfel der umliegenden Waldgebiete, dass man seine Hauptastgabel von unten nur erahnen konnte. Der gesamte innere, unbewachsene Teil der Lichtung wurde von diesem Baumriesen eingenommen, der über und über mit Runen bedeckt war. Zeichen aus der Elbenschrift, die sich andauernd veränderten, obwohl sie andererseits wie eingebrannt wirkten. Um die sich verändernden Zeichenkolonnen überhaupt lesen und mit Sinn erfüllen zu können, musste man wohl nicht nur ein Meister der elbischen Schrift und Sprache sein, sondern auch über so gute Augen verfügen, wie es den Angehörigen dieses Volkes nun mal eigen war.
»W ir sind anscheinend am Ziel«, stellte Arvan fest. Seinem Tonfall war anzumerken, wie tief ergriffen er von diesem Anblick war.
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