Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
so liebenswürdig und nett, dass ich nicht mehr davor fürchte, für einen Feigling gehalten zu werden. Infolgedessen reite ich mutiger, schaue mich um und genieße die Aussicht.
Auf gewundenen Straßen verlassen wir die Stadt. Sie sind so schmal, dass wir nur zu zweit nebeneinander reiten können. Die Menschen lehnen sich aus den überragenden Stockwerken, um uns vorbeireiten zu sehen, die Kinder schreien »Hurra!« und rennen neben unserem Zug her. Auf den breiten Chausseen reiten wir zu beiden Seiten der Straße, und die Markthändler in der Mitte rufen uns Segenswünsche zu und ziehen artig ihre Mützen. London birst vor Leben, lauthals preisen die Händler ihre Waren an, donnernd rollen Karrenräder über das Kopfsteinpflaster. Die Stadt hat einen sehr eigenen Geruch: Es riecht nach Dung, der von den Tausenden von Tieren rührt, die in den Gassen gehalten werden, es riecht nach den Abfällen der Fleischer und der Fischhändler, nach dem Gestank der Gerbereien und dem ewigen Rauch. Immer mal wieder sieht man inmitten elender Quartiere ein prächtiges Haus, an dessen Tor Bettler sitzen und die Hand aufhalten. Hohe Mauern schirmen es von der Straße ab, Bäume wachsen in seinen Gärten. Londons Adel baut seine prächtigen Häuser gleich neben den Hütten der Armen und vermietet ihre Eingänge an Bettler. Es ist so laut und so verwirrend, dass ich schon ganz benommen bin, und ich bin erleichtert, als wir endlich durch das große Stadttor reiten und die Mauern hinter uns lassen.
Der König zeigt mir den alten Festungsgraben, der in der Vergangenheit angelegt wurde, um London gegen Angriffe zu verteidigen.
»Nun keine Männer kommen mehr?«, frage ich.
»Man kann keinem Mann trauen«, lautet seine grimmige Erwiderung. »Sie würden aus dem Norden und aus dem Osten über uns herfallen, wenn sie nicht bereits den Hammer meines Zorns gespürt hätten. Auch die Schotten würden kommen, wenn sie es wagten. Doch mein Neffe Jakob fürchtet mich - und tut gut daran! -, und das Yorkshire-Gezücht hat eine Lektion bekommen, die es so bald nicht vergessen wird. Die Hälfte von ihnen trägt nun Trauer um die andere Hälfte, die verstorben ist.«
Ich sage nichts mehr, weil ich ihm nicht die gute Laune verderben will. In diesem Augenblick stolpert Katherines Pferd, und sie schreit leise auf und klammert sich an der Mähne fest, und der König lacht und nennt sie einen Feigling. Nun plaudern sie miteinander, und ich habe Muße, die Umgebung zu betrachten.
Vor der Stadtmauer sind größere Häuser, die ein wenig zurückversetzt stehen und Vorgärten oder dicht bepflanzte kleine Gemüsegärten haben. Anscheinend besitzt hier jeder ein Schwein, und manche Leute halten auch Kühe oder Ziegen im Garten. Es ist ein fruchtbares Land, das sehe ich den Menschen an, ihren glänzenden roten Wangen und den zufriedenen Mienen. Eine Meile weiter kommen wir richtig aufs Land: Offen liegen die Felder da, von niedrigen Hecken gesäumt, und immer wieder stoßen wir auf ein kleines Dorf oder einen Weiler. An jeder Wegkreuzung steht ein zerstörtes Heiligenbild, etwa eine Statue der Muttergottes mit abgeschlagenem Kopf. Dennoch liegt oft ein Strauß Blumen zu ihren Füßen, denn nicht alle Engländer folgen dem neuen Glauben. In jedem zweiten Dorf steht ein ehemaliges Kloster, das gerade umgebaut oder abgerissen wird. Es ist schon ungewöhnlich, wie dieser König im Laufe weniger Jahre das Gesicht seines Landes verändert hat. Es ist, als wären die Eichen mit einem Bann belegt worden, als wäre jeder schützende, mächtige Baum über Nacht brutal gefällt worden. Der König hat diesem Land das Herz herausgerissen, und noch kann man nicht erkennen, wie es ohne die heiligen Häuser und das heilige Leben atmen wird.
Der König bricht seine Unterhaltung mit Katherine Howard ab und sagt zu mir: »Ich habe ein großes Land.«
»Gute Höfe«, sage ich, »und ...« Ich breche ab, denn ich kenne das englische Wort für diese Tiere nicht. Also deute ich auf sie.
»Schafe«, erklärt er. »Sie sind der Reichtum dieses Landes. Wir liefern Wolle für die ganze Welt. Es gibt keinen Mantel in der ganzen Christenheit, der nicht aus englischer Wolle gewebt wäre.«
Das stimmt nicht so ganz, denn in Kleve scheren wir unsere eigenen Schafe und weben unsere eigene Wolle, aber ich weiß, dass der englische Wollhandel sehr wichtig ist, und außerdem will ich nicht widersprechen.
»Großmama hat auch eine Herde auf den South Downs«, meldet sich Katherine zu
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