Das Erbe Der Nibelungen
und Osten waren unruhige Zeiten eingekehrt. Die Franken waren die neue Macht im Zentrum, doch im Süden waren die Westgoten von den Mauren überrannt worden, und die brachten ihren ketzerischen neuen Glauben mit. Was die Kirche der Christen an irdischer Macht besaß, ballte sich in Konstantinopel, doch einige Berater des Königs zweifelten, dass die Stadt den Arabern auf ewig Widerstand leisten konnte.
Brynja wusste von diesen Entwicklungen. Zuerst heimlich, dann mit dem Wohlwollen ihres Vaters hatte sie Geschichte
studiert, Politik und Philosophie. Die klügsten Köpfe des Kontinents hatte Edelried geladen, seine Tochter zu bilden. Mittlerweile sprach Brynja vier Sprachen, viele Dialekte und las flüssig aus alten Manuskripten. Sie konnte Heilsalben anrühren und das Schwert führen.
Eigentlich durfte der Gedanke, Monate im langweiligen Island zu verbringen, sie nicht mit Begeisterung erfüllen. Kaum Bücher gab es dort, die Tischgespräche waren von begrenztem Anspruch, und die Kultur der Isländer war auf das Notwendigste beschränkt. Um wenigstens die einheimische Küche zu ertragen, hatte Brynja eine ganze Schatulle mit feinsten Gewürzen im Gepäck.
Aber sie freute sich doch. Mit Island verband sie Erinnerungen an Kindheit und Freiheit, an raue Tage mit seltsamen Bräuchen, an mutiges Versteckspiel in scheinbar endlosen, schwarzen Gemäuern. Trotz seiner oberflächlichen Langeweile war Island für sie immer … Abenteuer gewesen.
Und Sigfinn.
Er war kaum jünger als sie, und mochte er auch weniger an Reife haben, so waren sie doch von gleicher Seele. Kein Geheimnis hatte es je zwischen ihnen gegeben, und kein Mensch konnte je zwischen ihnen stehen. Sie waren nicht Cousin und Cousine, sondern Bruder und Schwester, die linke und die rechte Hand eines einzigen Geistes. Wie oft hatten sie einander die Ewigkeit geschworen? Sie konnte es nicht mehr zählen. Für Brynja war Sigfinn Island, und Island war schön.
»Wie lange wird es noch dauern?«, fragte sie den Kapitän des Schiffes, einen Langobarden.
»Einen guten Tag noch«, bekam sie zur Antwort. Brynja zog sich den doppelt genähten Schal, der sie wärmen sollte, fester um die Schultern.
War diesmal etwas … anders?
»Einen Tag noch«, flüsterte Brynja. Bis Island. Bis Sigfinn.
Das Boot des Prinzen legte im kleinen Hafen vor der Zitadelle an, und Boran nickte seinem Herrn zu. »Ihr solltet Eure Eltern wissen lassen, dass der Sturm Euch lebend zurückgegeben hat.«
Sigfinn, auf einen seiner Diener gestützt, verzog das Gesicht bei jedem Schritt. »Keinesfalls! Ich sehe aus, als hätte ich es allein mit dem fränkischen Heer aufgenommen. Bringt mich zum Heiler Einar. Erst mit seinem Segen, seinen Kräuterpasten und einem neuen Wams werde ich meinem Vater unter die Augen treten.«
Der Thronfolger hatte Mühe, auch nur einen einzigen Teil seines Körpers zu nennen, der nicht schmerzte, und es war nicht die Sorte Schmerz, die sich mit ausreichend Wein vertreiben ließ. Das war umso ärgerlicher, da er sich auf Brynja freute und auf ihre gemeinsamen Ausflüge durch das Reich. Er mochte nicht an die Qualen denken, die es ihm bereiten würde, auch nur auf einem Pferd zu sitzen, geschweige denn, es zu reiten.
Einar richtete die Schulter eines Bauern, als die Männer vom Hof den Prinzen hereinbrachten. Sogleich schickte er den Patienten davon, um sich seinem Herrn zu widmen. Der Heiler war ein alter Mann ohne Jahreszahl, dessen immer noch erstaunlich kräftige Finger schon Sigfinns Großvater ein ums andere Mal gebogen, gebrochen, geschient und genäht hatten. Sigfinn bedeutete seinen Dienern, ihn mit dem Heiler allein zu lassen. Er setzte sich auf eine erhöhte Pritsche und versuchte mühsam, die Überreste seiner edlen Kleidung vom Oberkörper zu streifen. Einar
ging ihm eilig zur Hand. »Mein Prinz, habt Ihr es mit einer Herde Dryks aufgenommen? Oder seid Ihr ihnen nur unter die Hufe gekommen?« Sigfinn versuchte zu lachen, hustete aber stattdessen etwas Blut. »Fischen waren wir, nichts weiter.« Mit fast schon kindlicher Neugier drückte Einar auf die blau herausstechenden Rippen des Prinzen, woraufhin dieser sich vor Schmerzen krümmte. »Welcher Fisch verdrischt Euch, als hättet Ihr ihn in der Taverne um sein Geld betrogen?«
»Das soll deine Sorge nicht sein, guter Einar. Meine Zukunft ist deine Aufgabe, nicht meine Vergangenheit. Was geschehen ist, ist geschehen.«
»Die Zeit«, murmelte Einar und öffnete einen steinernen Tiegel mit einer
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