Das Erbe Der Nibelungen
hindurchspähte, um einen Blick auf Brynja zu erhaschen.
Christer griff die Prinzessin bei den Unterarmen und lächelte freundlich. »Der kurze Sommer ist vorbei, doch die Sonne kehrt noch einmal zurück nach Island.«
Brynja deutete eine Verbeugung an und senkte den Blick zu Boden. »Mein Vater sendet Grüße - mehr noch aber sendet er Dank und Freundschaft dafür, dass Ihr mir Euer Haus öffnet.«
Christer ließ ihre Arme los, und Brynja wandte sich an Kari, die sie herzlich in die Arme schloss. »Wie kurz auch die Zeit zwischen deinen Besuchen sein mag, sie ist immer zu lang.«
Nun konnte Sigfinn endlich seine gute Freundin sehen, als sie sich ihm mit einem strahlenden Lächeln zuwandte.
Sein Atem setzte aus.
Das war nicht Brynja!
Es war ein … Geschöpf. Ein Zauberwesen. Größer,
schlanker, eleganter als das Mädchen, das er vor Jahren verabschiedet hatte. Ihr Haar, einst blond, schien nun vor Gold zu schimmern, und die Brise am Hafen ließ es wie reifen Weizen im Wind wiegen. Ihre Schritte auf ihn zu waren wie ein Tanz, gleichmäßig und fließend. Mit dem Alter waren die Fingernägel länger und die Lippen voller geworden. Ihre großen Augen waren nun von langen Wimpern geschmückt.
Sie war nicht Brynja. Aber sie war etwas, das Sigfinn augenblicklich begehrte, ohne dem Begehren Namen und Ziel geben zu können.
Sie umarmte ihn mit der gegebenen Höflichkeit, aber ihre Hände pressten auf seine Schulterblätter, und wie ein warmer Wind flüsterte sie in sein Ohr: »Ich habe dich so vermisst, mein liebster Sigfinn.«
Ihre Umarmung schmerzte, weil sie dabei genau jene Rippen presste, die der Fisch tags zuvor gebrochen hatte. Doch Sigfinn hielt still, sagte kein Wort, um dem Moment keinen Augenblick zu rauben. Er wollte die Augen schließen, ihr Haar riechen, ihre Hände berühren …
»Ein Fest ist vorbereitet, so wie es Sitte ist«, verkündete Christer nun, und Sigfinn hörte es wie aus weiter Ferne. »Gönnen wir den Gästen eine Stunde oder zwei, um das Salz des Meeres aus den Haaren zu waschen und sich dem Anlass entsprechend zu kleiden.«
Brynja ließ ihn los, und Sigfinn unterdrückte nur mühsam den Drang, sie weiter zu halten.
Kari hatte die Feier vorbereitet, den großen Prunksaal mit bunten Fahnen schmücken lassen und allerlei Gaukler und Musikanten vom Festland geholt. Es war ein großes Ereignis, das dem Ende des Sommers seinen schmerzenden Stachel
zog, und über die Jahre hatten die Menschen von Island begonnen, die Ankunft Brynjas mitzufeiern, als wäre es so angeordnet. Christer gab dazu reichlich aus dem Vermögen des Landes, und es gab keinen Tisch auf der Insel, der sich an diesem Abend nicht unter Braten und Krügen bog. Angestoßen wurde auf den König, seine Königin, den Prinzen und die gefällige Besucherin.
Und doch - Kari fand keine Ruhe im Herzen, um die Feierlichkeiten zu genießen. Zu sehr nagten in ihr die Worte der Seherin, so vage sie auch gewesen waren. Man mochte die Prophezeiungen als dummes Geschwätz hinstellen, wie ihr Mann es gerne tat. Schlimmer noch: als Gotteslästerung. Doch Kari hatte gelernt, dass es unklug war, den Glauben sich ändernden Zeiten anzupassen. Die Götter waren eifersüchtig und leicht zu erzürnen. In ihrem Herzen war sie sicher, dass nur ihre Opfer an Odin dem Reich Frieden geschenkt hatten - wie die Opfer ihrer Mutter und ihrer Großmutter.
Doch Kari wusste auch, dass an diesem Abend helle Freude erwartet wurde, und sie spielte das Spiel. Freundlich hielt sie Hof, fragte Brynja nach diesem und jenem, applaudierte den Musikanten und ließ sich vom König zum Tanze führen. Niemals brach ihr Lächeln, niemals verkrampfte sich ihr Schritt. Doch sie wartete nur darauf, zum Ende des Fests davonzueilen. Vielleicht konnte sie nicht verhindern, was kam - aber ihren Sohn zu schützen war ihr heilige Pflicht.
Sigfinn merkte nichts von den Sorgen seiner Mutter - er hätte es nicht einmal gemerkt, wenn der Vulkan, in dessen Seite die Burg gemeißelt war, ausgebrochen wäre und sie alle verschlungen hätte. Sein Blick hing an Brynja, an ihren sanften Bewegungen und an den edlen Formen ihres
straffen Körpers. Er sah nur weg, wenn sie in seine Richtung schaute. Es gefiel ihm nicht, was er fühlte - und doch brannte in ihm die Hoffnung, dass es ihr ähnlich ging.
Was hatte sich verändert? Was war in zwei Jahren geschehen, was zuvor in zwölf Jahren nicht geschehen war? Wieso wollte er mehr denn je ihr Freund sein und sah sich doch zu nichts
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