Das Erbe Der Nibelungen
noch daran glaubte?
So zogen sie los, ein wenig Proviant im Gepäck, um über die Hügel zur größten Ortschaft der Insel zu marschieren. Viele Könige hatten schon daran gedacht, die Hauptstadt näher an die Felsenburg Isenstein zu verlegen, aber es machte keinen Sinn - Görand lag in der Nähe der Weiden, gut erreichbar von allen Ecken der Insel, und es blieb von den Stürmen an der Küste meist verschont. Sigfinns Vater, König Christer, hatte einmal gesagt: »Burg Isenstein ist das Zeichen der Macht, das Zeichen der Stärke Islands - Görand steht für seine Gastfreundschaft und seine gute Menschen.«
Sie schafften es kaum bis über die ersten Hügel, denn wo karge Wiesen gewesen waren, war nun - ein Friedhof.
So weit Brynja und Sigfinn sehen konnten, sahen sie Kreuze, Grabsteine, kleine Hügel, markiert mit schweren Findlingen.
Es waren mehr Gräber, als Island Einwohner hatte.
Sigfinn wurde bleich und übergab sich heftig, wobei er gerade noch daran dachte, keine Totenruhe zu entweihen.
Auch Brynja war sichtlich aufgewühlt von dem Anblick und streifte durch die eng angelegten Reihen, um die Inschriften zu lesen. »Die letzten Totenjahre sind fast vierzig Winter her.«
»Was heißt das?«, keuchte Sigfinn und spuckte noch einmal aus, um den sauren Geschmack aus dem Mund zu bekommen.
»Ich glaube, dass Island seit vierzig Jahren unbewohnt ist«, entgegnete Brynja.
»Ist es nicht!«, schrie Sigfinn, von seiner Wut selbst überrascht. »Island ist meine Heimat! Es ist kein Friedhof. Und du weißt es!«
Es war der erste Instinkt der Prinzessin, Sigfinn für seinen Ausbruch zu rügen, doch dann trat sie einfach auf ihn zu und drückte ihn fest an sich. »Entschuldige meine unbedachten Worte, lieber Sigfinn. Ich wollte nur sagen, dass in dieser furchtbaren und falschen Welt dein heiliges Island verlassen wurde. Wenn wir jemals herausfinden wollen, was geschehen ist, müssen wir das hinnehmen.«
Sigfinn schob sie von sich und bemerkte eher beiläufig die Tränen, die seine Wangen hinunterliefen. »Wie kann ich hinnehmen, was ich nicht glauben kann?«
»Wie kannst du nicht glauben, was vor deinen Augen ist?«
Er hatte keine Antwort, und er hatte auch keine Kraft, eine zu suchen.
Sanft legte Brynja eine Hand auf seinen Arm. »Lass uns keine Zeit mehr hier verschwenden. Gehen wir zum Hafen und schauen dort nach einer Möglichkeit, zum Festland zu gelangen.«
So kehrten sie unverrichteter Dinge zur Burg zurück.
Bis zum Irrsinn hatten die Nibelungen gefeiert, was ihnen gelungen war. Vom einen Ende der Welt bis zum anderen, von den höchsten Bergen zu den tiefsten Tälern hatten sie ihren Triumph geschrien, ihr widerlicher Gesang ließ die
Blätter an den Bäumen braun werden und Vögel tot von den Ästen fallen. Sie hatten nicht nur ihre alte Macht wiedererlangt, sondern viel mehr noch: sie waren die Macht! Alles, was es gebraucht hatte, war eine schwarze Nacht gewesen, in der die Götter weggeschaut hatten, als die Nibelungen ihnen das Werk aus der Hand nahmen und Midgard neu gestalteten. Nach ihrem Willen. Es hatte Stunden gedauert, bis ihnen aufgefallen war, dass der Sieg zwar fast vollkommen war, aber eben nur fast.
Die Nibelungen waren nicht auf die Sinne der Menschen angewiesen, nicht auf Augen, Ohren und den Tastsinn ihrer Hände. Sie spürten Zeit so wie Geschichte, Gefühle wie Worte. Alles waren für sie Ströme, von denen sie durchflossen wurden, in denen sie schwammen, von denen sie tranken. Ihre Macht war wie ein Fluss aus Gold, prächtig und breit. Sie badeten in ihm und ließen sich von ihm tragen. Zu viel Begeisterung, zu viel Hochmut füllte ihre schwarzen Seelen, um gleich zu bemerken, dass die Oberfläche des Flusses nicht ungebrochen war, dass Felsen seine Glätte kräuselten. Drei Felsen. In ihrem Fluss.
Die ersten Stimmen verstummten im siegestrunkenen Gegacker, hörten auf die leisen Wellen, die von den Felsen geworfen wurden. Die Nibelungen zischelten einander zu, ermahnten sich gegenseitig zur Ruhe. Dann …
Drei Felsen, in ihrem Fluss.
Dasss kann nicht seeein , kam eine Stimme von allen Stimmen.
Dasss darf nicht seeein , kam eine andere.
Die Harmonie, in der sie gehorcht hatten, brach auf, und die Nibelungen begannen, aufgeregt zu schnattern.
Unmöööglich …
Kein Teeeil des Plaaans …
Das Wooort der Götter …
Ein Donnerschlag erschütterte ihre Welt zwischen den Welten, ein Beben durchlief sie schmerzhaft, als wolle es sie daran erinnern, dass sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher