Das Erbe Der Nibelungen
sie schon lange nicht mehr mit Empörung strafte.
War er nicht Brynjas Freund und Vertrauter - der Einzige? Hatte sie ihm nicht ihren Körper gezeigt, an Islands heißen Quellen? Als Prinz war er von ihrem Stand, und im gleichen Alter waren sie ebenso. Er wollte um sie nicht
bitten, das wäre unwürdig gewesen. Doch Brynja musste sehen, was nicht zu widerlegen war - in dieser Welt waren sie einander verpflichtet, aneinander gebunden.
Mit einer energischen Bewegung schlug er das Fell beiseite, das zu ihrem kleinen Lager führte. Brynja war noch wach und für den Tag gekleidet, sie lag in Gedanken vertieft, den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet.
»Es ist Zeit zu reden«, sagte Sigfinn entschlossen.
Brynja schwang die schlanken Fesseln vom Lager und setzte sich auf. Im Schein der kleinen Kerze, die ihre winzige Hütte erleuchtete, schien ein goldener Flor ihr Haar zu umgeben. »Was immer du willst.«
Ihre Stimme hatte einen neuen Klang, der Glanz in ihren Augen eine neue Farbe. Für Sigfinn hörte es sich an, als habe sie nicht auf seine Aufforderung reagiert, sondern sich ihm angeboten.
Was immer du willst …
Sie stand auf, wie sich eine weiche Flamme vom Holz emporschlängelt, und hielt seinen Blick ohne Unterlass, als müsse sie in ihm lesen. Ihre schmale Hand streckte sie nach seiner Wange aus, um sie zart zu streicheln.
Sigfinns Elan, seine männliche Entschlossenheit sank in sich zusammen. »Brynja, ich …«
Er hatte sich tausend Worte bereitgelegt und fand nun doch keines davon wieder.
Sie tat einen Schritt auf ihn zu, nahm seine rechte Hand und legte sie auf die weiche Haut zwischen Hals und Brust. Er konnte ihr Herz schlagen hören, so laut wie seines.
Sigfinn wollte genau so stehen bleiben. An diesem Ort, in diesem Moment. Für alle Ewigkeit. Kein Island, kein Worms, kein Hurgan war mehr von Belang. Hatte er Brynja, hatte er alles auf der Welt.
»Die Horde!«, schrie einer der Wachtposten draußen in der Nacht. »Ein Heer marschiert direkt auf uns zu!«
Brynjas Blick bat Sigfinn zu bleiben. Sich dem Treiben außerhalb des Lagers zu versagen. Ein Mann zu sein, der sie zur Frau machte.
Danain steckte seinen Kopf herein, so wütend wie hektisch. »Wir sind entdeckt worden! Calder will euch sehen! Sofort!«
Jonars Schädel schmerzte. Das tat er eigentlich fast immer. Es war nicht richtig, zwei Wesen in sich zu tragen, den Menschen und den Dämon. Wie Steine, die aneinander rieben, knirschten sie in seinen Eingeweiden, stritten um Vormacht. Der Gedanke, sich in das eigene Schwert zu stürzen, um dem inneren Aufruhr ein Ende zu machen, war verführerisch. Doch Jonar gehörte Hurgan, und er wusste es. Dem König zu dienen war sein einziger Lebenszweck, und für den König zu sterben die einzige verbliebene Ehre. Es stand ihm nicht zu, nach Gründen zu fragen oder sich zu verweigern.
Seine Späher hatten die kleine Siedlung ungefähr an dem Ort entdeckt, den die seltsame blinde Frau beschrieben hatte. Zwei, vielleicht drei Dutzend Männer. Jonar hatte mehr als einhundert Krieger unter seinem Kommando. Es würde keine Schlacht werden, sondern ein Massaker. Als er noch ein reiner Mensch gewesen war, hatte er ein Schiff befehligt, das Gewürze aus dem Osten nach Dänemark brachte. Die weiten Reisen hatten ihn lange vor Hurgans Häschern bewahrt, doch irgendwann hatten sie ihn dann doch erwischt. Jetzt diente er.
Gerade genug eigene Gedanken ließ ihm die Macht Hurgans, um sich darüber zu ärgern, dass dessen Getreuer Gadaric
plötzlich neben ihm stand, wie die blinde Frau aus dem Nichts aufgetaucht.
»Ich höre, der Befehl Hurgans kann bald erfolgreich erfüllt werden«, sagte die unscheinbare Gestalt in dem kuttenähnlichen Gewand.
Es war Magie, die Wesen wie Gadaric von einem Ort zum anderen brachte, ohne dass sie die Füße benutzen mussten. Jonar hasste Magie. Man konnte sie nicht erschlagen, nicht einsperren und nicht töten. Sie war Macht ohne Gewalt. Darin lag kein Vergnügen. »Die Rebellen sterben heute Nacht.«
»Ich will ihre Köpfe«, sagte Gadaric, nur um sich gleich zu korrigieren: »Hurgan will ihre Köpfe.«
Jonar wusste, dass Gadaric zu den Nibelungen gehörte - und dass die Nibelungen hinter den Kulissen die wahren Herren waren. Hurgans Macht beruhte auf ihrer Verbindung zu den alten Göttern. »Aus den Schädeln soll er sich Kelche machen und aus ihnen trinken.«
»Woher wusstest du, wo die Rebellen zu suchen sind?«, fragte Gadaric zu beiläufig, um nicht auf eine
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