Das Erbe Der Nibelungen
Selbst als er sein Pferd bestieg, tat sie so, als hätte er nicht erzählt, wohin es ging. »Möge dein Pfad gerade bleiben und dein Haupt trocken.«
Es dauerte einen ganzen Tag, bis die Bebauung sich lichtete und Burg Drachenfels im Dunst kaum noch zu erkennen war. Erste Grasbüschel wuchsen unter den Hufen, und das ewige Geschnatter und Geklapper der Städter wurde leiser. Die Präsenz der Horde ließ nach und mit ihr der ewige Gestank.
Dann endete die Stadt, von einem Schritt auf den anderen, an einem Waldrand.
Der Weg verlor sich nicht im Unterholz, sondern hörte einfach auf. Keine einzige Hütte mehr, kein bestelltes Feld. Verblüfft drehte Sigfinn sich um. Es war geradezu widersinnig, wie dicht besiedelt Worms hinter ihm lag, nur um vor ihm schlicht zu veröden. Dabei war der Wald zwar dicht, aber allemal nicht undurchdringlich.
Ein alter Bauer sammelte Holz direkt an der spürbaren Grenze zwischen Stadt und Wald. Sigfinn sprach ihn an. »He, guter Mann - sag, was ist mit dem Wald hier vorn? Gibt es dort nicht mehr Holz für dich als die dürren Zweige, die du da sammelst?«
»Da ist kein Wald, und da ist kein Holz«, antwortete der Mann, weder unfreundlich noch spottend. Er ging weiter seiner Arbeit nach.
Sigfinn schüttelte den Kopf und gab seinem Pferd die Sporen. Statt sich zu sputen, stieg es hoch, wieherte schaurig und schlug mit den Vorderbeinen, als gäbe es eine unsichtbare Mauer einzureißen.
Sigfinn stieg ab, band das Pferd an einen Baum und machte sich zu Fuß auf den Weg. Es gab schließlich keine erkennbare Gefahr, keine Ahnung von Tod und Verderben. Im Gegenteil - dieser mächtige Mischwald schien ihm gesünder als das kranke Holz, das er im Rest des Reiches gesehen hatte.
Die ersten paar Schritte geschah nichts. In seinen Gedanken machte sich der Prinz lustig über die abergläubischen Städter, die Angst vor etwas hatten, ohne es benennen zu können. Er verstand ihre Furcht vor Fafnir oder den Horden-Kriegern - aber ein Wald war nur Holz, Gras, Moos und überwiegend kleineres Getier, das keiner Klinge standhielt.
Was immer es in diesem Gehölz zu entdecken gab - er würde es leichten Schrittes finden und dann zu Glismoda zurückkehren. Vielleicht würde es einen Tag dauern, höchstens zwei.
Dann begann es in Sigfinns Beinen zu kribbeln, während seine Stiefel sich ungewöhnlich schwer anfühlten. Einen Augenblick dachte er, in Morast zu wandern, der seine Füße packte. Aber der Boden war trocken und fest.
Die Luft wurde bleiern und drückte auf seine Schultern. Die wenigen Geräusche klangen nun gefiltert, wie durch viele Lagen Stoff geschickt. Sigfinns Muskeln, gewöhnlich weich und elastisch, versteiften sich zu zähem Leder.
Niiiemand …, zischelte es durch den Wald.
Der Prinz sah sich um. Niemand, richtig. Niemand zu sehen.
Der Wald ist uuunser … UUUNSER!, kreischte es nun lauter und aus vielen Kehlen.
Unter Schmerzen wandte sich Sigfinn in die Richtung, aus der er gekommen war. Sein Pferd war nur einige
Schritte von ihm entfernt und doch schien es unerreichbar. Die Luft waberte, als stünde der Boden in Flammen.
Er dachte daran umzukehren. Er wollte umkehren. Sein Herz klopfte in Panik, und sein Schweiß tränkte heftig den Waldboden. Alles in ihm zog ihn zurück, heraus aus dem seltsam trägen Zwielicht ohne Farbe und Geschmack.
Doch Sigfinn ging weiter. Schritt um Schritt. Seine Füße wollten in der Mitte brechen, wenn sie auf den Boden trafen, nur um sich dann verzweifelt an ihn zu saugen.
Weiter.
Toood … TOOOD!, schrie es aus jeder Rinde, jedem Blatt.
Einmal stolperte Sigfinn, und als sich sein Gesicht in welkes Laub drückte, war es ihm wie ein feines Laken und lud zu einem süßen, verdienten Schlummer. Wieder kämpfte er dagegen an, verbat sich die Ruhe und kroch so lange weiter, bis ein tief hängender Ast es ihm ermöglichte, sich auf die Füße zu ziehen.
An Hunger war nicht zu denken, an Durst ebenso wenig. Das seltsam gefilterte Licht war nicht hell, sondern grau und freudlos. Es erlaubte keine Einteilung in Tag und Nacht, und die Erkenntnis, dass ihm jedes Zeitgefühl verloren ging, flatterte nur kurz durch Sigfinns Kopf.
Er griff sich ans Kinn und spürte einen Bart, wo vorher keiner gewesen war.
Wie lange ging er schon?
Sie war nun hinter der Mauer, jenseits von Burant, außerhalb der Macht von Hurgan. Doch Brynja empfand dabei keine Freude, und ihre Sehnsucht nach Freiheit war dadurch nicht gestillt. Es strengte sie an, keinen
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