Das Erbe Der Nibelungen
gewesen, so erschien sie ihm nun wie ein Friedhof, den man über ein ganzes Reich ausgedehnt hatte. Kaum noch Handel wurde getrieben, hungrige Tiere schrien in ihren Ställen, und viele Fenster waren grob vernagelt. Eine alte Frau, die Sigfinn nach dem Grund fragen wollte, zeigte den schwarzen Stummel dort, wo früher ihre Zunge gewesen war.
Sein Weg führte Sigfinn zu Halim. Sicher würde der Antiquar wissen, was Hurgan und seine Schergen in seiner Abwesenheit getrieben hatten. Doch wo Halims Laden gewesen war, gähnte nur noch ein ausgebranntes, rußiges
Loch. Sigfinn hoffte inständig, dass sein Freund mit dem Leben davongekommen war.
Als Nächstes suchte er Glismoda auf. Auch ihr kleiner Verschlag, in dem sie mit Niketas hauste, war verrammelt. Mit der Faust hämmerte er gegen die morschen Holzbretter.
Nichts geschah. Doch sein feines Ohr nahm eine Bewegung wahr, ein leises Schaben. Sigfinn hob den Fuß, und mit einem schweren Tritt verschaffte er sich Zutritt.
Glismoda kauerte in der Ecke, das Kleid so schmutzig, wie sie es bis zu seiner Abreise nie zugelassen hätte. Den Jungen drückte sie verzweifelt an ihren zitternden Körper, die Augen hielt sie fest geschlossen. »Bitte … wir … wir haben nichts mehr.«
Sigfinn streifte den Ledergurt mit dem Schwert ab und bückte sich vor die Frau, die ihm freundlich Unterschlupf gewährt hatte. Seine Stimme war vorsichtig leise, als er sie ansprach. »Glismoda. Ich bin es nur.«
Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, und als sie Sigfinn im Dämmerlicht erkannte, kämpfte sie mit den Tränen. Sie fiel ihm schwach in die Arme, den Jungen dabei zwischen sich haltend.
»Ragnar«, flüsterte sie. »Ich hatte jede Hoffnung aufgegeben …«
Er nahm ein Stück Brot aus seinem Beutel - trotz der Zeit, die er im Nibelungenwald verbracht haben musste, konnte man es noch essen. Mühsam biss Glismoda auf der zähen Rinde herum.
»Wie lange war ich fort?«, fragte Sigfinn. »Glaube mir, die Frage ist nicht so töricht, wie sie sich anhört.«
»Fast ein halbes Jahr«, murmelte Glismoda. »Kurz nach deiner Abreise begann es …«
»Begann was?«
»Die Horden«, sagte Glismoda, als verstünde sie die Frage nicht. »Ohne Erbarmen knechteten sie die Menschen. Wormser Bürger wurden willkürlich niedergemetzelt, und in Raserei zogen die Schergen mordend durch die Gassen, bis niemand sich mehr auf die Straße traute. In manchen Nächten fällt Fafnir über die Stadt her und brennt mit seinem Feuerodem unsere Häuser nieder.«
»Aber warum denn?« Sigfinn stand auf und entzündete den kümmerlichen Rest einer Kerze, um etwas mehr Licht in den Verschlag zu bringen. Es roch entsetzlich - nicht einmal zur Notdurft hatten sich Glismoda und Niketas mehr nach draußen getraut.
»Keiner weiß, was geschehen ist. Aber in den Tavernen gibt es Gerüchte. Manche sagen, Hurgan habe uns die Horden zur Strafe geschickt, weil wir ihm nicht genug huldigten. Andere meinen, der König sei dem Tode nahe und wolle sein Reich mit auf die andere Seite nehmen.«
Sigfinn strich Glismoda sanft über das schmutzige Haar. »Was immer es ist - wir werden es überstehen. Ich bin wieder da, und zumindest für euch kann ich sorgen.«
Glismoda nahm seine Hand und küsste sie. »Nicht mehr für uns, guter Ragnar.«
Erst jetzt bemerkte Sigfinn die Leblosigkeit des Jungen und sah die siechen Flecken auf seiner Haut. Er mochte schon seit Tagen tot sein.
Der isländische Prinz küsste Glismoda behutsam die Stirn und erlaubte sich eine einzelne Träne. »Gib ihn mir.«
Sie wehrte sich kaum, als er das Kind in seine Arme nahm. Dann trug er den kleinen Leib hinaus, und in der einbrechenden Dunkelheit ging er zum Rheinufer. Schwer und ewig floss hier das Wasser, blind für alles Leid, aber
da für jeden. Er fand ein kleines Boot, halb verrottet, und legte das Kind darauf nieder. Eine kleine Fackel reichte, um es zu entzünden. Mit dem Fuß stieß er gegen das Holz, und der Rhein nahm das flammende Begräbnis in Würde auf. Gedankenverloren sah Sigfinn dem brennenden Boot hinterher.
Eigentlich hatte er warten wollen - warten auf Calder und Brynja und auf ein Zeichen der Götter. Hatte er nicht alle Zeit der Welt? Wenn einmal wieder alles war wie vorher, dann war auch das Leid dieser Zeit getilgt. Drehte er das Rad der Geschichte zurück, würde Niketas nie gestorben sein und Halim bei seinen Büchern sitzen.
Doch das Leid war real. Und seine Trauer über den kleinen tapferen Jungen war es ebenfalls. Er
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