Das Erbe Der Nibelungen
Sigfinn.
»Eines noch«, rief Regin ihm mit schwerer Stimme nach. »Wenn du siehst, was ich nur anzudeuten vermag, dann zögere nicht einen Augenblick. Tu, was dein Herz dir sagt.«
Den ganzen restlichen Weg zur Burg musste Sigfinn daran denken. So sehr es ihn freute, einen Verbündeten in seinem einsamen Kampf zu haben, so sehr beunruhigten ihn Regins vage Worte.
Die Häuser, an denen er vorüberkam, wurden zu Ruinen, unbewohnt und zerfallen. Was immer in der Nähe der Burg einst erbaut worden war, hatte alles Leben aufgeben müssen. In Hurgans Schatten war kein Platz für Menschen, und so mancher Stamm, der die Fundamente stützte, war direkt durch die Dächer gerammt worden. Hatte Sigfinn Drachenfels bisher an eine Spinne erinnert, so kam ihm die Burg nun mehr wie eine riesige Zecke vor, die sich in einen lebenden Körper namens Worms verbissen hatte und ihn über die Jahre aussaugte.
Ein Grunzen ertönte aus der Dunkelheit. Eine Wache hatte ihn bemerkt. Kleine Fackeln, die die Straße säumten, hatten es unmöglich gemacht, sich weiter zu verstecken. Der Horden-Krieger kam auf ihn zu, misstrauisch, aber nicht alarmiert. Es war ein seltsamer Anblick, denn das Halbwesen in Hurgans Diensten konnte seine Form nicht mehr beständig halten. Sein Körper schien zu wabern, als
werfe er Blasen, und das Gesicht zuckte zwischen Dämon und Mann hin und her. Es war wie ein Kampf, der im Inneren geführt wurde.
Sigfinn tauchte in eine kleine Gasse ab, wohin ihm die Wache sicher folgen würde. Aber wenn der Tarnhelm hielt, was Regin versprochen hatte, würde das kein Problem sein. Es kribbelte leicht, als der Prinz sich die goldene Schale überstülpte, die nach vorne einen Schleier aus feinen Kettengliedern über sein Gesicht fallen ließ. Einen Moment lang wurde Sigfinn schwindelig, und eine kalte Welle durchlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen.
Er sah an sich herunter - und sah nichts.
Trotz der kaum durchbrochenen Dunkelheit hätte er zumindest die Umrisse seiner Gliedmaßen sehen müssen. Doch da war nichts mehr. Er war aus Glas oder klarem Quellwasser.
Der Horden-Krieger kam nun knurrend in die Gasse, und Sigfinn hielt den Atem an. Glücklicherweise stank es schlimm genug, dass das Halbwesen sich nicht auf seinen Geruchssinn verlassen konnte. So machte es nur ein paar halbherzige Schritte, fand nichts von Belang und kehrte zu seinem Posten zurück.
Sigfinn atmete leise aus und hätte gerne Zeit damit verbracht, den wundersamen Tarnhelm zu bestaunen, aber der Erfolg spornte ihn an, noch in dieser Nacht die Entscheidung zu suchen. Dabei dachte er an Brynja und an Calder - sie hatten anscheinend nie den Weg nach Worms gefunden, also musste er davon ausgehen, dass sie tot waren. Auch für sie würde er Fafnir und Hurgan zur Rechenschaft ziehen.
Unsichtbar schlich er um fünf, dann zehn Horden-Krieger herum. Die Dunkelheit machte es unmöglich, auf jeden
Schritt zu achten, deswegen knirschte immer mal wieder ein Stein unter seinen Füßen, oder ein Ast knackte. Doch dank des Helms erregten die Geräusche nur kurzfristig die Aufmerksamkeit der Wachen. Wo sie keine Gefahr sahen, nahmen sie auch keine Gefahr wahr.
Da Krieger die hölzernen Treppen hinauf und hinab marschierten, wollte Sigfinn diese Wege meiden, um nicht zwischen ihnen eingekeilt zu werden. Sehen konnten sie ihn vielleicht nicht, fühlen aber gewiss. Also griff er nach einem der starken Seile, das zu dem Geflecht gehörte, von dem der Unterbau der Burg getragen wurde. Er kletterte daran hoch, und es knirschte leise. Die fest gedrehten Fasern schnitten in seine Hände, während er sich mühsam nach oben vorarbeitete. Immer wieder kam er zu Knotenpunkten, an denen er sich entscheiden musste, in welche Richtung er weiterhangeln sollte. Manchmal fiel es ihm leicht, wenn zwei Taue knapp nebeneinander verliefen und er die Füße abstützen konnte. Dann wieder hing er frei, hoch über Worms, mit pendelnden Beinen und schmerzenden Armen. In Gedanken dankte er seinen Lehrmeistern auf Island, die großen Wert auf seine körperliche Ertüchtigung gelegt hatten.
Elle um Elle, Balken um Balken, Seil um Seil kämpfte sich Sigfinn an den Treppen vorbei nach oben vor, immer darauf bedacht, den Tarnhelm und Nothung nicht zu verlieren. Seine Aufgabe wurde zusätzlich erschwert, weil auch er seinen Körper nicht sehen konnte und die Hände immer wieder unsichtbar zugreifen mussten. Ein ums andere Mal verschätzte er sich dabei, und es war oft genug nur pures Glück, dass
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