Das Erbe Der Nibelungen
schien dem Tyrannen wohl nützlich, wenn seine Besucher ihn nicht sofort sehen konnten.
Aber da war noch etwas. Im Schatten, den der Thron warf, gab es eine Art Käfig, dem ein ledernes Tuch übergeworfen worden war. Ein leises, gefährliches Schnauben war daraus zu vernehmen. Vorsichtig machte Sigfinn einen Schritt darauf zu …
»Zu lange habe ich gebraucht, um dich zu erkennen«, ertönte eine harte, raue Stimme, und Sigfinn sprang ertappt zwei Schritte zurück. »Sorge dich nicht, wir sind allein. Na ja, fast.«
In der Tat sah Sigfinn keine Wachen, die den König
schützen sollten - niemand, der bereit war, für ihn sein Leben zu geben.
»Den albernen Tarnhelm kannst du jetzt abnehmen«, sagte Hurgan. »Du wirst wissen, dass er dir hier nicht mehr von Nutzen ist.«
Sigfinn hielt sich so nahe wie möglich an der gekrümmten Seitenwand des Saals, während er weiter nach vorne ging, um Hurgan von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Mit der linken Hand streifte er den Tarnhelm von seinem Kopf, mit der rechten zog er Nothung aus seiner Scheide. Es vibrierte in seiner Hand, als freue es sich auf das Blut, das es zu holen galt.
Für eine ganze Weile taxierten sie einander, der Prinz und der Herrscher, suchten im Blick des anderen etwas Vertrautes. So wie Hurgan sich über die Jugend und die offensichtliche Unerfahrenheit seines Feindes wunderte, so wunderte sich Sigfinn über Hurgans schlanke und muskulöse Gestalt, die trotz aller Falten ihrem Alter spottete.
»Blond, natürlich«, zischte der König. »Immer blond, mit strahlenden Augen, und Feuer im Herzen.«
»Ich bin Sigfinn, Prinz von Island, Nachfahre von Siegfried von Xanten«, sagte Sigfinn mit fester Stimme.
In diesem Augenblick erwachte das Tier im Käfig hinter dem Thron aus seinem Schlaf und begann winselnd an seinen Ketten zu rütteln.
»Dein Besuch wird nicht mit frohem Herzen aufgenommen«, stellte Hurgan grinsend fest. »In dieser Welt gibt es keine Nachfahren Xantener Blutes mehr.«
»Diese Welt ist falsch.«
»Wer sagt das?«, fragte Hurgan und hob eine Augenbraue. »Du? Allein drei Millionen Buranter Bürger würden dir widersprechen, ebenso wie hundert Jahre Geschichte.«
»Diese Geschichte ist eine Lüge«, antwortete Sigfinn. »Sie wurde erfunden, um Siegfried seinen Sieg zu nehmen und Burgund die leuchtende Zukunft.«
»Ich bin sicher, dass du das glaubst«, sagte Hurgan und lehnte sich entspannt auf seinem Thron zurück. Er hatte nicht einmal eine Waffe an seiner Seite. »Aber gehe in dich, nur einen Moment: ist es nicht ebenso wahrscheinlich, dass du einfach nur dem Wahnsinn verfallen bist? Dass dein krankes Hirn dir etwas vorgaukelt, was es nicht gibt?«
»Meine Gedanken sind klar«, hielt Sigfinn dagegen. »Ich bin Sigfinn von Xanten, Prinz von Island, Nachfahre von …«
»Island ist eine tote Insel«, fiel ihm Hurgan ins Wort. »Liegt es vielleicht daran? Hast du deine Angehörigen verloren, und dein Verstand mag sich von ihnen nicht trennen?«
Sigfinn wischte sich den Schweiß von der Stirn. Hurgan wollte in seine Gedanken, wollte Zweifel säen. Es würde ihm nicht gelingen. »Ich weiß von deinem Pakt mit den Nibelungen und den Göttern.«
»Du weißt gar nichts«, knurrte der alte König. »Du warst nicht dabei, hast es nicht gesehen, hast nichts erlebt.«
»Burgund werde ich wieder zu dem machen, was es immer war und was es wieder sein soll«, verkündete Sigfinn. »Und der erste Schritt dahin wird dein Tod sein.«
Ächzend erhob sich Hurgan von seinem Thron und war dabei beeindruckend stattlich. »Du weißt, wer ich bin.«
Sigfinn nickte. »Hurgan von Burant.«
»Nur Hurgan?«
Lange hatte Sigfinn darüber nachgedacht, während er Halims Chroniken studiert hatte. Er hatte sich alle Beteiligten vorgenommen, die vor hundert Jahren rund um den
Nibelungenwald in Erscheinung getreten waren, und er war in den Schriften ihren Spuren gefolgt. Die Schlussfolgerung war so einfach wie überraschend gewesen.
»Hagen von Tronje.«
Hurgan hielt inne, legte den Kopf leicht schräg. »Sag das noch einmal.«
»Du bist Hagen von Tronje, Verräter des Hofes von Burgund, Lakai der Nibelungen und Mörder von Siegfried von Xanten.«
Der König genoss es, den Namen zu hören, den er selber fast schon vergessen hatte. Hagen. Hagen von Tronje. Er nickte zufrieden. Es war, als fände er wieder zu sich selbst zurück, zum alten Hof von Burgund.
»Ich bin Hagen, das ist wahr«, sagte er dann. »Über die Dekaden wandelte sich der Name, und
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