Das Erbe der Pandora
lasse.«
Ohne ein weiteres Wort ging Iris zur
Vordertür hinaus und rannte die Stufen hinunter bis zu ihrem Haus, wo sich ihre
Mutter und Schwester immer noch stritten.
11
S onntagmorgen erwachte Iris früh nach
ihrer ersten Nacht im neuen Haus. Zuerst hatte sie Angst gehabt, nicht schlafen
zu können, dann hatte sie befürchtet, Alpträume zu haben wie den mit Bridget
und dem Spiegel, aber sie war so erschöpft gewesen, daß sie eingeschlafen war,
sobald sie das Kopfkissen gespürt hatte. Das erste, was sie hörte, waren
zwitschernde Vögel. Sie öffnete die Augen und erblickte gedämpftes Sonnenlicht,
das durch einen leichten Morgennebel und kühle, frische Luft gefiltert wurde.
Sie setzte sich im Bett auf, umschlang die Knie und sah durch die Glastür
hinaus auf ein blaugraues Meer. Nun fehlte nur noch Garland.
Am Abend zuvor hatte er nicht
angerufen. Sie hatte ihn auch nicht angerufen, aber sie dachte sich, da sie
diejenige war, die umzog, hätte er sie anrufen sollen. Dann kam es ihr in den
Sinn, daß er vielleicht gedacht hatte, sie riefe ihn an, weil sie in einer Art
Übergangsstadium war und wahrscheinlich schwieriger zu erreichen wäre. Dann
dachte sie, daß er sie zumindest hätte anrufen sollen, um ihr zu gratulieren.
Das war ihr endgültiges Urteil: Er hätte sich melden sollen und hat es nicht
getan. Sie war am Samstagabend allein gewesen, und er hatte nicht angerufen.
Vielleicht war er zu beschäftigt. Vielleicht war er nicht allein. Der Gedanke
gefiel ihr nicht. Sie versuchte, ihn zu verdrängen.
Sie stieg aus dem Bett, schnappte sich
ihren abgetragenen Frottee-Bademantel und tapste barfuß in die Küche, wobei sie
den Kisten auswich, die überall gestapelt waren. Das vertraute rote Licht der
Kaffeemaschine leuchtete fröhlich neben der Kanne mit dem frischen Kaffee, der
automatisch durchgelaufen war. Sie goß sich eine Tasse ein und trank ihn
schwarz, während sie die klebrige Folie von einem Apfel-Gewürz-Muffin nahm, den
sie am Abend zuvor in ihrem neuen Lebensmittelgeschäft in der Gegend gekauft
hatte. An ihrem ersten Morgen in ihrem neuen Haus wollte sie sich das einmal
zum Frühstück gönnen.
Sie steckte das schnurlose Telefon in
die Tasche ihres Bademantels, damit sie nicht nach drinnen rennen mußte, falls
Garland anrief, nahm den Muffin, die Tasse und die Sonntagszeitung, die sie
auch am Abend zuvor gekauft hatte, und ging nach draußen auf ihre
Redwood-Veranda. Sie legte sich in den Liegestuhl, der früher einmal auf die
winzige Terrasse ihrer Eigentumswohnung gezwängt worden war. Damals hatte sie
nur Platz für einen Stuhl. Jetzt hatte sie Platz für zwei. Aber, dachte sie
traurig, sie war noch immer allein, was machte es da schon für einen
Unterschied? Ein Stuhl reichte völlig. Sie zog das Telefon aus der Tasche,
starrte es an, als wollte sie es zum Klingeln zwingen, und steckte es dann
wieder weg.
Nachdem sie den Muffin gegessen, eine
zweite Tasse Kaffee geholt und lustlos die Zeitung durchgeblättert hatte, nahm
sie wieder das Telefon heraus. Dieses Mal wählte sie. Es war zehn Uhr morgens
in New York. Garland las wahrscheinlich entspannt die Sonntagszeitung, trank
ebenfalls Kaffee — und vermißte sie natürlich. Das Telefon klingelte viermal,
bevor sein Anrufbeantworter ansprang. Sie legte auf, noch während die Ansage
lief. Er saß nicht zu Hause und vermißte sie, aber — so versicherte sie sich —
er vermißte sie bestimmt, egal wo er war. Oder vielleicht vermißte er sie
überhaupt nicht. Vielleicht war sie eine dumme Gans, und in Wirklichkeit konnte
sie ihm gar nicht gleichgültiger sein. Sie stand auf und ging unter die Dusche.
Eine Stunde später stand sie vor der
Glastür des Firmengebäudes von Pandora. Sie legte die Hände um die Augen,
drückte das Gesicht gegen die Tür und winkte jemandem im Gebäude zu.
Kurz darauf erschien Toni Burton auf
der anderen Seite der Tür und schob die beiden Riegel beiseite. »Hallo, Iris.
Tut mir leid, daß Sie warten mußten, aber hier lungern in letzter Zeit so viele
Spinner herum, daß ich mich nicht traute, allein bei unverschlossenen Türen
hier zu sein. Wir hatten sogar Morddrohungen. Können Sie sich das vorstellen?«
Sie machte die Tür auf und ging zur Seite, daß Iris eintreten konnte. Ihre
hellblauen Augen funkelten. Aufgrund ihrer übertriebenen Fröhlichkeit hatte
Iris Toni für schwachsinnig gehalten, als sie ihr zum ersten Mal begegnete.
»Morddrohungen!« Iris folgte Toni ins
Innere des umgebauten
Weitere Kostenlose Bücher