Das Erbe der Phaetonen
Neu-Braunschweig, einundzwanzig Meter Höhe. Freilich wird sie hauptsächlich durch den Mond ausgelöst, des- sen Anziehungskraft sie merklich beeinflußt, jedoch die Nähe zur Sonne mußte bei der Venus das Fehlen eines Trabanten reichlich wettmachen. Nach Belopolskis und Balandins Meinung konnte die Flut auf der Venus achtzig Meter Höhe betragen. Wenn daher zu Beginn der Nacht im Gefolge der Sonne, die sich dem westlichen Horizont zuneigte, die Flutwelle die Insel erreichen würde, dürften nur noch die Wipfel der höchsten Korallenbäume aus den Wassern des Ozeans ragen, alles andere aber untertauchen.
Die Meeresgewächse und Seetiere, die gegenwärtig auf dem Trockenen lagen, würden dann erwachen, um Nahrung suchend ihr eigentliches Leben zu führen. Und wenn der Tag sie wieder an die Luft versetzte, würden sie in den Zustand einer eigen- artigen Anabiose, die dem Winterschlaf einiger Tiere und Pflan- zen ähnelte, zurückverfallen,
Balandin und Korzewski gelangten einmütig zu diesem Schluß.
Schon über hundert Stunden, beinahe fünf Erdentage, lag das Schiff nun auf der Venus. Die wissenschaftliche Arbeit, auf die sich alle auf der Erde und unterwegs so gründlich vorbereitet hatten, entfaltete sich allmählich.
Trotz des ganz natürlichen Wunsches, möglichst gut und voll- ständig das zu erforschen, was noch nie ein Mensch erforscht hatte, trieb jedoch der Gedanke an die Erde die Besatzungs- mitglieder zur Eile an.
Alle fühlten sich durch die Unterbrechung der Funkverbin- dung bedrückt. Das Bewußtsein, daß die Angehörigen auf der Erde unter schrecklicher Ungewißheit litten, war quälend. Un- ablässige Arbeit half am besten, mit der zermürbenden Sehn- sucht fertig zu werden. Andrejew mußte sich oft an Belopolski oder Melnikow wenden, damit der festgesetzte Ablauf des Tages und vor allem der Nacht eingehalten wurde. Die Besat- zung war zu bestimmten Stunden verpflichtet, sich schlafen zu legen, aber fast täglich versuchte jemand, gegen diese Regel zu verstoßen.
Außerhalb des Schiffes herrschte „ewiger“ Tag, neblige Däm- merung, die kein einziger Sonnenstrahl durcheilte. Fast stünd- lich wurde diese Tagähnlichkeit durch die totale Finsternis tobender Gewitter abgelöst. Bei einigen Expeditionsmitgliedern tiaten die ersten Anzeichen von Nervosität auf. Andrejew und Korzewski führten obligatorische therapeutische Maßnahmen durch, denen sich alle ohne Ausnahme jeden Tag unterziehen mußten. Besonders häufig versuchten Toporkow, Knjasew und Wtorow, der die Lianenumarmung übrigens gut überstanden hatte, sich vor diesen Maßnahmen zu drücken, aber die Kom- mandanten des Schiffes schritten energisch dagegen ein. Die Ge- sunderhaltung gehörte zu den wichtigsten Aufgaben. Belopolski und Melnikow, die sich selbst ausgezeichnet fühlten, kamen als erste in die Klinik und gaben damit den anderen ein Beispiel.
„Die Lebensbedingungen auf der Venus sind so ungewöhn- lich für uns“, erklärte Andrejew denjenigen, die an der Not- wendigkeit derartiger Maßnahmen zweifelten, „daß sich ganz unbemerkt ein Leiden einschleichen kann. Das Nervensystem entscheidet alles. Wenn es in Ordnung ist, bleiben den Men- schen viele Unannehmlichkeiten erspart.“
„Ich bin so gesund wie noch nie“, sagte Toporkow.
„Reden Sie sich nicht heraus! Sie sind hier nicht auf der Erde.“
Die nähere Umgebung des Raumschiffes war schon gründlich untersucht worden, und die Kühlschränke bargen umfangreiche Kollektionen von Mustern der Fauna und Flora der Insel. Die Sternfahrer hatten sich mit der Heimtücke der Venusbewohner vertraut gemacht, und der beinahe tragisch ausgelaufene Zwi- schenfall wiederholte sich nicht mehr.
Von Tag zu Tag verlor das Betreten des Ufers an Gefährlich- keit. Je höher die unsichtbare Sonne über den Horizont stieg, desto deutlicher sah man das Leben ersterben. Immer langsamer bewegten sich die vermeintlichen Lianen, Bänder und Aktinien. Man mußte ganz dicht an sie herantreten, um noch Reaktionen hervorzurufen, die aber auch von Stunde zu Stunde matter wur- den. Die Natur schlief vor den Augen der Erdbewohner gleich- sam ein. Auch durch die häufigen Regengüsse wurde sie nicht lebendiger, wie dies am frühen Morgen noch der Fall gewesen war. Unerschrocken drangen die Wissenschaftler tiefer in das Dickicht des wundersamen Waldes ein.
Vor den Gewittern mußten sie sich nach wie vor in acht neh-
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