Das Erbe der Pilgerin
dachte Dietmar vorerst nicht an Florís, sondern nahm seine Burg in fliegender Eile und voller Sorge um Sophia in Besitz. Wie Luitgart ihm gesagt hatte, durchkämmte er den Palas und schließlich sogar die Keller und Verliese der Burg. Womöglich hatte man Sophia ja gefangen gehalten.
Gerlin begrüßte derweil den Priester. Florís war wieder zu Bewusstsein gekommen, aber wie sie vorhergesehen hatte, wurde er schwächer und schwächer. Sie ließ ihn mit dem Dorfpfarrer allein, um zu beichten und die Krankensalbung zu empfangen. Währenddessen sprach Gerlin mit der Kräuterfrau, an die sie sich noch von Dietmars Geburt erinnerte. Damals war sie ein rothaariges Mädchen gewesen, jetzt mischten sich die ersten grauen Strähnen in ihr volles, in Zöpfen aufgestecktes Haar.
»Glaubst du, irgendetwas tun zu können?«, fragte Gerlin.
Die Heilerin hatte Florís kurz untersucht. Jetzt schüttelte sie den Kopf.
»Nein, Herrin. Vielleicht hätte der Medikus helfen können … der verstand was von diesen Dingen, auch wenn er ein Jud war. Aber ich … ich hol Kinder und sammle Kräuter gegen Schmerzen. Die Wunde von einem Messer verbind ich auch manchmal. Aber dies … Es tut mir leid, Herrin, aber ich glaube, Euer Gatte tritt heute noch vor Gottes Angesicht.«
Wie jede Hebamme ließ auch diese keine Gelegenheit aus, sich zu bekreuzigen – und wagte sicher keine ungewöhnliche Behandlung. Zu groß war die Gefahr, irgendwann Hexe genannt zu werden.
Gerlin nickte. Gemeinsam mit der Kräuterfrau trat sie gefasst in Florís’ Kammer. Beide beteten mit ihm und dem Kaplan. Dann schickte Gerlin die Besucher freundlich hinaus.
»Ich möchte mit meinem Mann allein sein«, sagte sie schlicht. »Die kurze Zeit, die uns noch bleibt.«
Florís wandte ihr mühsam den Kopf zu. »Das … das hast du damals auch gesagt«, flüsterte er. »Als … als Dietrich starb. Was hast du ihm gesagt, was habt ihr getan, als …«
Gerlin rieb sich die Augen. »Ich will jetzt nicht an Dietrich denken. Und nicht an diese verfluchte Burg, die ihn mir geraubt hat. Und die mir dich jetzt raubt! Ich wünschte, ich hätte Lauenstein nie gesehen, ich …« Sie brach in Tränen aus.
Florís tastete nach ihrer Hand. »Nicht doch, Gerlin … die Burg ist nicht verflucht … denk doch nur … denk an unseren Kuss … Hast du dich hier nicht in mich verliebt? Waren wir nicht glücklich … obwohl du … weil du Dietrich hattest? Er war ein gutes Kind.«
Gerlin lächelte unter Tränen. Tatsächlich hatte sie für Dietrich mehr mütterliche als minnigliche Gefühle gehegt. Und Florís hatte Recht. Sie war nicht unglücklich gewesen auf Lauenstein.
»Ich habe ihm Geschichten erzählt …«, sagte sie leise, »Dietrich … in der Stunde, in der er starb. Ich habe unsere Liebe beschworen …«
Florís zog mühsam Gerlins Hand an die Lippen. »So tu das auch für mich«, flüsterte er mit ersterbender Stimme. »Nimm mich in den Arm und erzähl mir … von unserer Liebe. Und öffne die Fenster, Geliebte. Ich möchte … ich möchte Gottes Lächeln noch einmal sehen …«
Florís starb gegen Mitternacht, als das Licht des vollen Mondes auf sein Bett fiel. Gerlin hielt ihn in den Armen und drückte ihre Lippen auf seine Stirn, als er schließlich seinen letzten Atemzug tat. Dann stand sie auf, um die hölzernen Läden vor dem Fenster zu schließen. Sie musste jetzt hinausgehen, Florís’ Aufbahrung in der Kapelle veranlassen … sie hoffte, dass der Priester noch da war, sie nahm an, dass Rüdiger ihn gebeten hatte zu bleiben. Im Rittersaal wurde gefeiert. Nicht gar so ausgelassen wie am Tag, aber mit jedem Schluck Wein verließ die Ritter die Hemmung. Sie waren an den Tod gewöhnt. Florís’ Verlust bedauerten sie zweifellos, aber keiner würde lange um ihn trauern.
Nicht mal Gerlin sollte Zeit haben, sich wenigstens kurz allein ihrem Kummer hinzugeben. Als sie eben die Tür der Kemenate hinter sich schloss, stürmte Dietmar über den Wehrgang auf sie zu.
»Mutter … Mutter, ich wusste nicht, dass ihr hier seid, ich habe euch zuerst nicht gefunden. Wie geht es ihm, Mutter? Wie geht es Florís?«
Gerlin sah mit einem Blick in Dietmars verstörtes Gesicht, dass Florís nicht der Grund war, aus dem er sie aufsuchte. Und dass er sicher nicht nur Gerlin vergebens gesucht hatte.
»Sie ist nicht hier, Mutter! Ich habe die ganze Burg durchsucht. Aber ich kann sie nicht finden. Wenn sie tot ist, Mutter … wenn sie nun irgendwann während dieser drei Jahre
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