Das Erbe der Pilgerin
einer der Augenbrauen beeinträchtigte eine Platzwunde die Ebenmäßigkeit seiner Züge. Miriam und der Arzt erkannten Ringe unter seinen dunklen Augen – womöglich nicht nur Zeichen der heutigen Anstrengung. Flambert mochte schon länger über der Frage grübeln, die ihm der Graf an diesem Tag endgültig gestellt hatte.
»Willst du sie denn heiraten?«, fragte der Medikus. Wie Geneviève kannte er auch Flambert seit dessen Kindertagen.
Flambert nickte. »Es wäre mein ganzes Glück«, sagte er schlicht.
Miriam zuckte die Schultern. »Dann solltet Ihr Euch den Wünschen des Grafen fügen«, meinte sie. »Ob mit dem Herzen oder nur mit Worten, müsst Ihr mit Euch selbst ausmachen. Sophia ist eine schöne und kluge Frau. Wenn sie Euch erwählt, wird sie Euch sicher glücklich machen. Und obendrein rettet Ihr Euer Leben und Euer Erbe.«
»Ich fürchte den Tod für meinen Glauben nicht!« Flambert fuhr auf. »Dagegen die Konvertierung … wie soll ich das Geneviève beibringen?«
Der Medikus lachte. »Also hast du jetzt Angst vor deinem Gott oder vor deiner Schwester?«
Flambert senkte den Kopf. »Ich fürchte die Frage an Sophia«, flüsterte er. »Mich verfolgt die Angst, dass sie mich nicht wirklich liebt.«
Miriam hob die Hände. »Herr Flambert, sie hat Glück, dass sie überhaupt gefragt wird. Der Graf könnte sie mit irgendjemandem verheiraten, und so wie es um ihre Herkunft und ihre Mitgift steht, hätte sie kaum die Möglichkeit, Nein zu sagen. Sophia weiß, was von ihr erwartet wird. Sollte sie also keine unüberwindliche Abneigung Euch gegenüber hegen, dann wird sie zustimmen und Euch eine gute Frau sein. Und von unüberwindlicher Abneigung habe ich bisher nichts bemerkt, eher das Gegenteil.«
Flambert wagte ein schwaches Lächeln. »So ratet Ihr mir zu?«, fragte er. »Ich will sie nicht unglücklich machen. Ich liebe sie von ganzem Herzen – meine Liebe ist so groß wie die Welt … Es sollte für uns beide reichen.«
Miriam lächelte. »Dann sollten wohl auch die Sterne günstig stehen«, bemerkte sie.
Salomon richtete sich in seinem Sessel auf, nachdem der Ritter seine Räume verlassen hatte.
»Warum, Miriam?«, fragte er leise. »Du zerstörst Dietmars Hoffnung auf ein Glück mit der Frau seines Herzens.«
»Glück?« Miriam nahm sich noch einen Becher Wein. »Also, wenn das Glück ist, was da in den Gesichtern von Dietmar und Sophia steht, dann haben wir da gänzlich unterschiedliche Vorstellungen.«
»Der junge Mann quält sich, und die kleine Ornemünde auch«, sagte Salomon – er konnte die Gefühle der beiden sehr gut nachvollziehen.
Miriam nickte. »Eben. Und deshalb bringen wir jetzt etwas Bewegung in das Ganze. Wenn Flambert Sophia fragt, muss sie sich entscheiden.«
Vorerst kam Flambert aber gar nicht dazu, Sophia die entscheidende Frage zu stellen, und auch Salomon sah seinen Schüler Dietmar kaum. Die Verstärkung für Simon de Montfort war eingetroffen, und die Kreuzfahrer konzentrierten sich sofort auf die erneute Eroberung des Vororts Saint-Cyprien. Nun hatte auch das schon im Vorfeld in den Sternen gestanden – Abrams Spion in den Reihen der Belagerer arbeitete hervorragend. So ließen die Verteidiger von Toulouse Montfort zunächst an den Barrikaden rund um die Stadt ablaufen. Die Brücken über die Garonne wurden von Lanzenreitern verteidigt, und Bogenschützen bemühten sich, die Aufstellung von Belagerungsmaschinen zu verhindern. Miriam und Salomon frohlockten über den ersten Einsatz ihrer Mangonels, die sich recht gut bewährten.
»Nur das Zielen müssen die Leute noch üben«, meinte Abram. »Mit dem kleinen Modell haben die Mädchen auf acht Ellen Länge präzise getroffen – vor Saint-Cyprien schlagen die Kugeln eher zufällig richtig ein. Zur Abschreckung reicht das, aber man könnte es besser machen.«
Die Kämpfe um den Vorort zogen sich während des gesamten Frühjahrs hin – und dann geschah etwas, das kein Astrologe, sondern höchstens ein wirklich kundiger Wetterbeobachter hätte voraussehen können. Über Toulouse entlud sich ein Gewitter mit sintflutartigen Regenfällen. Die Garonne schwoll binnen kürzester Zeit an, überschwemmte Saint-Cyprien und riss sämtliche Brücken und Barrikaden mit sich fort. Die Ritter des Grafen konnten gerade noch zurück in die Stadt entkommen, bevor die Wege gänzlich unpassierbar waren. Montfort verfolgte sie nicht, auch er scheute die Schlacht im Morast. Allerdings ließ er seine Kontrahenten auch nicht wieder aus
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