Das Erbe der Pilgerin
wäre stolz gewesen, hätte er Dietmar jetzt sehen können. Sie war lange Zeit mit ihm als seine Gattin gereist und hatte Dietmar als seinen Sohn ausgegeben. Gerlin schenkte dem jungen Ritter einen warmen Blick. Er hatte seinen Vater nie gekannt, aber bessere Pflegeväter als Florís und Salomon hätte er sich nicht wünschen können.
Das Burgtor öffnete sich jetzt für Herrn Conrad – und für die Ritter vor der Feste hieß das vorerst warten. Bis die Fehde offiziell eröffnet war, mussten sie ohnehin noch drei Tage ausharren. Aber Dietmar nutzte die Zeit, um vor seinen Rittern Aufstellung zu nehmen. Als er dazu den Helm abnahm, sah er strahlend schön aus mit seinen leuchtenden blauen Augen und dem wehenden blonden Haar. Fast wie ein Held aus einem Märchen. Gerlin fragte sich, ob die junge Sophia diesen Auftritt wohl von ihrer Kemenate aus verfolgte.
»Es ist nun also so weit!«, sagte Dietmar mit klingender Stimme. »Wir sind hier, um mein Erbe zu erstreiten – und so Gott will, auch die Hand meiner Herrin Sophia. Und schon um ihretwillen ist dies keine Fehde, wie andere unter Euch sie vielleicht bereits ausgefochten haben. Wir werden Herrn Roland kein Leid zufügen, wo immer es nur geht – denn wenn wir Dörfer schleifen und Bauern töten und Vieh stehlen, dann schaden wir damit ja nicht ihm, sondern Lauenstein!«
Unter den Bauern und Handwerkern hinter den Rittern kam Zustimmung auf. Dietmar lächelte auch ihnen zu.
»Die Menschen in dieser Grafschaft waren meinem Vater treu ergeben«, führte er weiter aus, »und werden es mir ebenfalls sein. Sie müssen unbedingt verschont bleiben! Und wir werden uns auch sonst an die Regeln halten. Keine Kampfhandlungen während des Gottesfriedens, zu hohen Feiertagen …«
Dietmar hielt inne, als ihn ein junger Ritter aus einer der ersten Reihen unterbrach. Reimar von Hemmdorf war der jüngere Sohn eines Nachbarn und als Fahrender schon viel herumgekommen.
»Das ist ja schön und gut, Herr Dietmar«, wandte er jetzt ein. »Aber erstens: Wenn ich Euch recht verstehe, sollen wir der Burg die Nachschubwege abschneiden. Wie soll das gehen, wenn wir ständig Gottesfrieden halten? Und als Zweites: Wenn wir nicht plündern und uns an den Dörfern des Frevlers Roland schadlos halten – wo machen wir dann Beute? Wir sind ja nicht rein zum Vergnügen hier, Herr Graf von Lauenstein!«
Die Ritter um ihn herum lachten und klatschten Beifall. Dietmar biss sich auf die Lippen. An die Bedürfnisse der Fahrenden hatte er bislang keinen Gedanken verschwendet. Er dachte wie ein Ritter, nicht wie ein Burgherr.
Gerlin trieb ihre Stute vor, neben das Pferd ihres Sohnes. »Ist es das Anliegen eines Ritters, zu brandschatzen und zu morden oder sich ein Lehen zu erwerben?«, fragte sie streng. »Meines Wissens doch eher Letzteres. Die Grafschaft Lauenstein ist weitläufig und reich, Ihr seid eben hindurchgeritten: All diese Höhenzüge warten darauf, gerodet und besiedelt zu werden. Wer sich im Kampf für meinen Sohn auszeichnet, der wird dafür belohnt werden, wer jedoch nur plündern und rauben will, der setze sich besser gleich ab oder schließe sich Herrn Roland an. Der fragt nicht nach ritterlichen Tugenden. Aber ich sage es Euch gleich: Er wird nicht siegen!«
Gerlins Ansprache rief von jeder Seite her mehr Beifall hervor als alle Worte zuvor. Die Ritter schlugen begeistert auf ihre Schilde, die Bauern jubelten. Neue Rodungen und Siedlungen boten auch ihren Kindern Möglichkeiten zum Landerwerb. Gerlin atmete auf. Blieb noch die Frage des Gottesfriedens. Sie sah Florís hilfesuchend an, aber jetzt hatte sich Dietmar wieder gefasst.
»Wir achten den Gottesfrieden«, erklärte er. »Solange man uns nicht provoziert. Und an den Tagen des Herrn sollte doch wohl auch kein Nachschub in eine belagerte Burg geschafft werden.«
Die Ritter lachten. Florís nickte seiner Gattin und seinem Pflegesohn gleichermaßen zu. Offiziell gab es viele Regeln, deren Einhaltung eine rechte Fehde von einer unrechten unterschied. Aber in der Praxis war es fast unmöglich, sich immer daran zu halten. Es wachte auch niemand darüber – Roland hatte Gerlin Lauenstein unter anderem dadurch entreißen können, dass er jede Regel missachtete.
Inzwischen öffneten sich die Tore der Burg, und Herr Conrad ritt hindurch.
»Meine Herren Ritter«, begann er förmlich. »Herr Roland von Ornemünde hat den Fehdebrief angenommen. Von heute an in drei Tagen herrscht Krieg zwischen ihm und uns.«
Kapitel 2
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