Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
mochte. Eisig war auch die Schattenhand, und als sie Maylea packte, war es, als pressten sich ihr frostige Zapfen in die Haut.
Gespenstische Gesichter umtanzten den dunklen Koloss, schwankten wie schimmernde Nebel in der Finsternis, verloren die Gestalt und flossen auseinander, um aus den dünnen Schleiern neue, grauenhafte Fratzen zu formen.
»Das Rad dreht sich. Sterbliche«, wisperten sie ihr zu, und eine schrille Stimme kreischte: »Zerquetscht sie!«
Die eisigen Finger folgten dem Ruf und verstärkten den Druck auf ihre Kehle. Sie schrie, doch nur ein krächzender Laut entfloh ihren Lippen. In Todesfurcht hob sie die Arme und schlug nach dem finsteren Peiniger, aber ihre Hände fuhren wirkungslos durch den Schattenleib, und höhnisches, unbarmherziges Gelächter drang an ihre Ohren …
Sie erwachte aus dem Wirbel wispernder Stimmen, höhnischen Gelächters und frostkalter Hände, die nach ihr griffen, und fand das Spiegelbild ihres Traums im Kreis der über sie gebeugten Gesichter wieder. Im unsteten Fackelschein wirkten sie düster und grimmig, und in den flüsternd gewechselten Worten lag keine Freundlichkeit. Hinter ihnen schien die Nacht mit glühendem Feuer gesäumt, das den Himmel erhellte.
»Sie wacht auf«, sagte eine Stimme, und auf einmal waren die Gesichter klar zu erkennen – Uzoma!
»Sie ist mehr tot als lebendig«, meinte eine tiefe Stimme. »Wenn sie stirbt, ist es deine Schuld.«
»Ich habe sie nicht fest geschlagen. Sterben … pah! Die tut doch nur so«, knurrte der Erste. »Ich bin sicher, sie steht bald wieder auf den Beinen.« Ein harter Fußtritt bohrte sich in Mayleas Rippen, und ein stechender Schmerz durchzuckte sie wie ein Peitschenhieb. Sie keuchte und krümmte sich.
»Siehst du, sie lebt!«, knurrte der Uzoma zufrieden.
»Das muss sie auch«, sagte ein anderer mit mahnendem Unterton. »Die Hohepriesterin will sie lebend.«
»… und zwar bald«, fügte die tiefe Stimme hinzu. »Wir haben lange genug gerastet. Schafft sie wieder aufs Pferd.«
Grobe Hände packten Maylea an der Armen. Die Fesseln schnitten ihr tief in die Haut, doch sie biss die Zähne zusammen und schwieg. Sie wusste nicht, wie lange sie besinnungslos gewesen war, aber da es noch immer tiefdunkle Nacht war, konnte es nicht allzu lange gewesen sein.
An den Ritt erinnerte sie sich nur dumpf. Er bestand für sie aus Schmerzen, Dunkelheit, holpernden Bewegungen und dem durchdringenden Schweißgeruch des Pferdekörpers. Einmal hatte sie versucht, in vollem Galopp seitlich vom Pferd zu gleiten, doch der Uzomakrieger neben ihr hatte sie brutal zurückgezerrt und ihr heftige Schläge versetzt. Danach wusste sie nichts mehr.
Jetzt zerrten die Krieger sie wieder aufs Pferd. Ein Ruf ertönte, das Tier trabte an, und die Welt um Maylea herum versank wieder in Dunkelheit, Schmerzen und beißendem Schweißgeruch.
Der Angriff auf die Festung am Pass begann leise, aber nicht unerwartet im ersterbenden Licht des Tages.
Die Krieger der Vereinigten Stämme von Nymath standen dicht gedrängt auf den Wehrgängen der Festungsanlage und starrten hinab in die finstere Klamm, in der sich ein Meer aus Tausenden von Fackeln bis hin zum fernen Ende des Grinlortals erstreckte.
Es war still. Totenstill.
Auch Gathorion hatte auf der Brustwehr Posten bezogen. Nicht die kleinste Regung verriet, was in ihm vorging, und seine Stimme wirkte ruhig und gefasst, als er seine Befehle an die Meldegänger weitergab, die nach einer kurzen Verbeugung wieder in der dicht gedrängten Menge der Verteidiger verschwanden.
»Callugar stehe uns bei«, hörte er einen Krieger in unmittelbarer Nähe flüstern. Die Worte, obwohl leise gesprochen, hallten durch die Nacht und wirkten fast wie ein Frevel in der bedrückenden Stille.
Der Elbenprinz wandte den Blick von dem Geschehen in der Klamm ab und schaute hinüber zu dem Krieger, der gesprochen hatte. Der junge Onur hielt sein Schwert so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Gesicht war von einer unnatürlichen Blässe, die selbst im Fackelschein zu erkennen war, und sein Blick starr auf das herannahende Heer gerichtet.
Plötzlich wurde die Stille vom Dröhnen der feindlichen Trommeln zerrissen, deren dumpfer, pulsierender Rhythmus düster und bedrohlich durch die Klamm hallte und von den steil aufragenden Felswänden als hundertfaches Echo zurückgeworfen wurde.
Die Uzoma rückten vor – eine nicht enden wollende Masse gesichtsloser, gepanzerter Gestalten im
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