Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Notenblatt in der Schmuckschachtel und der Ballade? Oben angekommen, nahm sie die Schachtel mit dem Amulett behutsam aus der Schreibtischschublade, öffnete sie und ließ das Kleinod in ihre Hand gleiten. Sogleich stellte sich das seltsam vertraute, warme Gefühl wieder ein. Fasziniert beobachtete sie die irisierenden Farbspiele des edlen Steins in der Mitte des Amuletts.
Wie schön er war!
Das Amulett fest in der Hand, summte sie gedankenverloren das Lied vor sich hin, das sie in seinen Bann gezogen hatte.
… und tief in ihr regte sich etwas, etwas Altes, Unbekanntes, ein Gefühl, ein Gedanke …
Plötzlich glaubte Ajana einen schwachen Schein zu sehen, der von dem Stein ausging.
… etwas, das ihr fremd und zugleich auch vertraut war, erwachte aus seinem Schlummer …
Der Schein schien ihre Finger zu durchdringen. Ganz deutlich konnte sie die dünnen, roten Adern unter der Haut erkennen.
… da waren Erinnerungen, Erinnerungen an Dinge, die geschehen waren, lange bevor sie geboren wurde …
Vorsichtig öffnete sie die Hand. Der helle Stein pulsierte in einem unnatürlichen, weichen Licht.
Als ob es lebendig wäre …
Ajana erschauerte und schloss die Finger hastig um das Schmuckstück. Als sie die Hand wieder öffnete, war das mystische Licht erloschen.
Auf dem Weg nach unten summte sie in Gedanken immer wieder die kurze Tonfolge, die sie von dem Notenblatt her kannte. Je länger sie die Teile der Melodie summte, desto dringender verspürte sie den Wunsch, die fehlenden Noten zu finden, um endlich das Lied als Ganzes zu hören.
Minuten verstrichen, und aus dem Wunsch erwuchs ein fast zwanghaftes Bestreben, das schließlich unerträglich wurde.
Ajana schaltete den Fernseher aus und ging in das kleine Musikzimmer im Souterrain. Mit klopfendem Herzen öffnete sie den Klavierdeckel und holte die Schachtel hervor, die sie sich in die Hosentasche gesteckt hatte. Dann setzte sie sich auf den schwarzen Hocker, nahm das Notenblatt heraus und entfaltete es vorsichtig. Es war zu klein für die Notenablage, doch nach mehreren Versuchen stand es endlich. Der erste Ton, den Ajana anschlug, hallte wie ein dumpfer Glockenschlag durch das Zimmer.
… wieder regte sich etwas in ihrem Innern, doch diesmal war es größer, mächtiger …
Sie hielt inne und wagte kaum zu atmen, während sie dem Nachhall des Tons lauschte, der langsam verklang. Ihr Herz klopfte hämmernd, die Hände zitterten. Zögernd schlug sie den zweiten Ton an. Er klang etwas heller, wirkte aber seltsam fremd und unnatürlich laut in der Stille des Hauses.
… tief in ihrem Innern spürte sie eine sehnsuchtsvolle Erwartung …
Ajana schlug den dritten Ton an.
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie den Eindruck, als verschwämme das Bild des Musikzimmers vor ihren Augen.
… die Musik erweckte die Erinnerungen in ihr erneut zum Leben. Machtvoll drängten sie nach außen und nährten in Ajana den Wunsch weiterzuspielen …
Sie rieb sich die Augen und schaute zum Kellerfenster hinaus. Die Sonne schien. Es war alles in Ordnung … und vor allem: Es war ein ganz normaler Tag.
… spiele! …
Ihre Neugier wurde stärker. Stärker als der ganz normale Tag, der schon längst kein solcher mehr war, stärker als die unterschwellige Angst, die sie trotz der warmen Luft frösteln ließ.
… spiele! …
Ajana atmete tief durch und spielte die Noten bis zur ersten Lücke in schneller Folge. Ihre Finger fanden die fehlenden Töne wie von selbst und schafften mühelos den Übergang, dann hielt sie inne. Sie hatte sich nicht getäuscht: Es war dieselbe Melodie, die sie zuvor gehört und vor sich hin gesummt hatte.
… spiele! …
Ja! Ajana spielte die Klänge wieder und wieder. Es war, als hätte sie das Lied selbst geschrieben und nach langer Zeit des Vergessens wieder entdeckt. Sie fühlte sich glücklich. Das Lied war ihr Freund. Mehr noch, es war ihr Lied.
Nur einmal hielt sie kurz inne, griff nach dem Amulett und legte es sich wie selbstverständlich um den Hals. Es war ihr Amulett.
Mit traumwandlerischer Sicherheit glitten ihre Finger über die Tasten, und Klänge aus längst vergangener Zeit erfüllten den Raum. Ajana spielte mit geschlossenen Augen, wie sie es immer tat, wenn sie ein besonders ergreifendes Stück spielte, und gab sich ganz dem Zauber hin, den die Musik wob. Sie spürte nicht, dass sich die Luft in dem kleinen Musikzimmer verdichtete, und sah nicht, wie der Mondstein im Herzen des Amuletts zum Leben erwachte. Sie bemerkte
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