Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
durchbrach mehr das Tosen des Feuers, das rund um das Lager herum wütete.
Endlos tröpfelte die Zeit dahin. Maylea verharrte reglos am Boden und hoffte inständig, dass die Uzoma nicht zurückkamen; wie betäubt horchte sie auf ein Lebenszeichen der anderen, ein Stöhnen, ein Jammern, irgendetwas. Vergebens.
Es war vorbei.
Dann hörte sie doch etwas. Es war das unheilvolle Knistern eines Feuers in unmittelbarer Nähe. Dazu kamen ein durchdringender Schwefelgeruch und eine starke Hitze, die ihr in Erinnerung riefen, dass der Hain keinen Schutz vor den Flammen bot.
Maylea richtete sich auf und blickte sich um. Der Hain brannte lichterloh!
Wenige Schritte von ihr entfernt schossen lodernde Flammensäulen wie Riesenzungen zum Himmel hinauf. Die glutheißen, rauchlosen Mäuler verzehrten gierig Bäume und Sträucher und wälzten sich unerbittlich auf sie zu. Ganz in der Nähe stieg ein Vogelschwarm lärmend in die Höhe und suchte sein Heil in der Flucht. Das aufgeschreckte Gekreisch vertrieb das lähmende Gefühl, das Maylea angesichts der tödlichen Feuerwalze ergriffen hatte. Die junge Wunand gehorchte ihrem Lebenswillen, hob die Feuerpeitsche vom Boden auf und floh. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, was sie auf der Wiese erwarten würde. Sie musste fort, nur fort, bevor die verheerenden Flammen den Hain gänzlich verschlungen hatten. Die ungeheure Hitze nahm ihr die Sicht, und sie hatte das Gefühl, dass ihre Kehle mit jedem Atemzug mehr verdorrte. Sie keuchte und hustete. Tränen verschleierten ihren Blick, doch ihre Füße bewegten sich wie von selbst über das schwelende Grasland, das dem Heer als Lagerplatz hätte dienen sollen. Sie lief und lief- und weinte. Niemand begegnete ihr, niemand rief nach ihr. Sie war allein.
Irgendwann stieß sie mit dem Fuß gegen ein Hindernis und strauchelte. Sie kam wieder auf die Beine und lief weiter, doch ihre Kräfte schwanden. Nach Luft ringend, stolperte sie noch ein paar Schritte voran, geriet ins Taumeln und stürzte erneut. Diesmal blieb sie liegen, schloss die Augen und wartete darauf, dass sich ihr hämmernder Herzschlag beruhigte. Mühsam setzte sie sich auf, wischte die Tränen fort und sah sich um. Nicht weit entfernt im verkohlten Gras lag ein übel riechender, schwarzer Klumpen, der sie zu Fall gebracht hatte. Sie stand auf, um ihn aus der Nähe zu betrachten, und blickte erschüttert auf eine bleiche Reihe menschlicher Zähne, die aus dem unförmigen Gebilde hervorragten.
Der grauenhafte Anblick war mehr, als sie ertragen konnte. Panik, Entsetzen und Übelkeit brachen in rascher Reihenfolge über sie herein. Hastig wandte sie sich um und rannte davon.
»Was siehst du, Kwamin?« Vhara stand die Ungeduld ins Gesicht geschrieben. Seit die Sonne ihren höchsten Stand überschritten hatte, saß sie nun schon auf dem geflochtenen Schemel im Hause des Sehers und wohnte dem heiligen Swehto-Ritual bei. Für die Hohepriesterin war es unerträglich, noch länger auf dem knarrenden, altersschwachen Sitz auszuharren. Aber sie war so begierig, als Erste die sehnlichst erwartete Botschaft zu erfahren, dass sie darauf bestanden hatte, dem Ritus beizuwohnen. Immer wieder wechselte sie unter gereiztem Seufzen und Stöhnen die Sitzhaltung, und die steile Falte auf ihrer Stirn machte deutlich, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren. »Was murmelst du da vor dich hin?«, bemerkte sie unruhig. »Sag mir endlich, was du siehst!«
Der alte Uzoma rührte sich nicht. Mit blicklosen, weit geöffneten Augen starrte er unbeirrt in die Ferne, als hätte er die Worte der Priesterin nicht vernommen. Seine mit Bändern umwickelten Arme ruhten locker auf den Knien, während er mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden saß und in tiefen, gleichmäßigen Zügen den strengen Duft schwelender Kräuter einatmete, die in einer Schale zu seiner Rechten vor sich hin glommen. Aus einer Schnittwunde in der vernarbten Fingerkuppe seines Daumens quoll dunkles Blut hervor und tropfte zu Boden, wo ein Haufen bleicher Knochen scheinbar wahllos verstreut herumlag. Die hellen Gebeine zeigten auffällige Blutflecken, ein Zeichen dafür, dass der Alte sie noch vor kurzem in den Händen gehalten hatte.
»Kwamin!« Obwohl Vhara wusste, dass sie den Seher bei dem heiligen Ritual nicht stören durfte, nahm ihre Stimme einen drohenden Unterton an. »Sag mir, waren sie erfolgreich?«
»Das Dorf am Fluss ist vernichtet«, murmelte der Uzoma mit bleierner Stimme. Die Worte klangen
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