Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
gelungen war, die Menschen in Furcht erstarren zu lassen, wenn nur ihr Name genannt wurde.
Vhara rührte sich nicht.
In majestätischer Pose thronte sie auf ihrem mit Tagarafedern kunstvoll geschmückten Korbstuhl, ließ den Blick hoheitsvoll über die Menge schweifen und genoss das Gefühl der Macht, das sie in solchen Augenblicken stets erfüllte.
Sie spürte die Blicke der Menschen auf sich ruhen und sah den Hass in ihren Augen. Sie fühlte, wie sie sich wanden, wie sie innerlich aufbegehrten, um dann doch furchtsam die Augen zu senken, wenn ihr Blick den ihren kreuzte.
Es war ein Augenblick, den sie immer wieder aufs Neue auskostete, ein stummes Innehalten, das deutlich machte, dass jene da unten nicht mehr waren als niederes Gewürm. Zu schwach, um aufzubegehren, aber durchaus nützlich, wenn es darum ging, die Macht ihres Meisters durch Blutopfer zu festigen.
Vhara fühlte, wie die Anspannung stieg, während die Menschen darauf warteten, dass sie zu ihnen sprach. Doch erst als die Stille unerträglich wurde, erhob sie sich langsam und trat gemessenen Schrittes vor.
»Volk von Andaurien«, sagte sie mit tragender, wohlklingender Stimme. »Die Zeit des Bangens und des Wartens hat ein Ende, denn heute wird der Eine, den wir lieben und verehren, neu erstarken. Er, der seine Hand zu eurem Wohl über Andaurien breitet, der eure Felder nährt, euch den Regen schenkt und euch vor Hunger und Darben schützt. Er, der zu eurem Wohl Dürren und Überschwemmungen abwendet und den Mächten der großen Wüste Einhalt gebietet, sodass sie nicht weiter in unser fruchtbares Land vordringen können. Ihm zu huldigen haben wir uns heute hier versammelt, auf dass er ein weiteres Jahr für das Heil Andauriens und unser aller Wohl wirken möge.«
Sie machte eine Pause und schaute sich um. Jedes Wort ihrer Ansprache war genau festgelegt, ebenso wie die Reaktionen der Menschen, die auf die Rede zu folgen hatten.
Nach dem jahrhundertealten Verlauf hätten die Menschen jetzt jubeln und ihre Freude über die baldige Rückkehr des Einen kundtun müssen.
Aber nichts geschah.
Vhara sah, wie der ehrwürdige Sprecher zu ihrer Linken immer wieder die Arme in die Höhe riss, um die Massen zum Jubeln zu bewegen.
Aber niemand leistete ihm Folge.
Das Schweigen, das ihr entgegenschlug, war beängstigend. Wie konnte dieses Gewürm es wagen, ihr den Jubel zu versagen? Was ging hier vor? Mit einem raschen Blick vergewisserte Vhara sich, dass die Krieger der Tempelgarde vollzählig aufmarschiert waren. Die vielen Hundert gut ausgebildeten und schwer bewaffneten Männer auf ihren Posten zu sehen war beruhigend. Und die Gewissheit, dass die Menschen dort unten keine Waffen mit sich führen konnten, milderte das dumpfe Gefühl der Bedrohung, das in dem Schweigen mitschwang.
Was soll schon geschehen?, dachte sie bei sich. Selbst wenn sie einen Aufstand wagen sollten, wäre es nicht das erste Mal, dass er blutig niedergeschlagen würde. Diese Narren ahnten nicht, dass sich fast zweihundert Ajabani unter ihnen befanden, die jeden Versuch einer Revolte schon im Keim ersticken würden.
Ein siegessicheres Lächeln umspielte Vharas Mundwinkel, als sie den Blick noch einmal über die dicht gedrängte Menge schweifen ließ. Angesichts der vielen tausend Leute, die gekommen waren, um die Felis sterben zu sehen, vergaß sie fast ihren Ärger darüber, dass die Ajabani keine weitere Felis hatten gefangen nehmen können. Offenbar waren die Katzenfrauen nicht auf ihre geschickte Täuschung hereingefallen. Weder die Tempelgarde noch die Ajabani hatten Anzeichen dafür entdeckt, dass sie in der Nähe waren, um ihre Schwester zu befreien. Wie es schien, war es mit dem Zusammenhalt unter den Felis auch nicht weit her.
»Das Blut und die Herzen der Tieropfer wurden dem heiligen Feuer nach Sonnenaufgang übergeben«, fuhr sie schließlich so unbeirrt fort, wie sie es auch vor einer jubelnden Menge getan hätte. »Die Flamme brennt wieder. Nun gilt es, die Macht des minderwertigen Blutes mit dem Wertvollsten zu vereinen, das wir dem Einen demütig darbieten können – dem Blut seiner Kinder.« Auch an dieser Stelle hätte Jubel aufbranden müssen, doch Vhara ahnte bereits, dass er ausbleiben würde, und sprach sofort weiter: »Bevor jedoch die Opferungen beginnen, wird von Gotteshand das Urteil über jene gefällt, die als unsterblich gilt. Sie und ihre Schwestern haben sich dem Einen von Anfang an widersetzt. Sie haben Verrat begangen, indem sie König Sanforan
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