Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
Glieder der Geisterseherin zurück. Eine magere Hand, auf der dicke Adern hervortraten, glitt unter dem Gewand aus dunklem, grob gesponnenem Tuch hervor, schob die Schale mit den glimmenden Blättern zur Seite und tastete nach dem knorrigen Stab aus Wurzelholz, der neben ihr auf dem Boden lag. Ihre Bewegungen waren schwerfällig und von der Last des Alters gezeichnet. Doch selbst als sie sich auf den Stab stützte und sich ächzend erhob, eilte ihr niemand zur Hilfe.
Geisterseherinnen waren bei den Hedero ebenso geachtet wie gefürchtet. Man achtete sie wegen der Verbindung, die sie zum Reich der Toten aufnehmen konnten, und dafür, dass sie die Seelen der Verstorbenen sicher durch die graue Zwischenwelt begleiteten. Aber die Hedero fürchteten auch ihre Macht. Es hieß, die Berührung einer Geisterseherin bringe Unglück und beschere dem Berührten einen frühen Tod.
»Hohe Frau!« Der Stammesfürst der Hedero wagte es als Erster, die Stimme zu erheben. Wie die anderen hatte er außerhalb der Feuerschalen auf das Ende der Zeremonie gewartet und war nun begierig zu erfahren, was die Geisterseherin zu berichten wusste.
Die Mitlan wandte sich ihm zu. Mildes Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht, das so zerfurcht und vom Alter gezeichnet war, dass es fast keine Konturen mehr hatte. Die kleinen dunklen Augen wurden von den schweren Lidern beinahe überdeckt und saßen tief in den Höhlen, verfilzte Strähnen schütteren Haares hingen ihr wirr ins Gesicht.
»Haben sie das Tor durchschritten?«, fragte der Stammesfürst ehrfürchtig. Es war eine rituelle Frage, die am Ende jeder Totenzeremonie gestellt wurde, und wie immer warteten die Hedero auch diesmal gebannt auf die Antwort der Geisterseherin.
»Sie haben die Pforte des Lichts durchschritten.« Die Alte nickte bedächtig. »Die Ahnen haben sie in ihren Kreis aufgenommen.« Ein Raunen ging durch die Menge. Die Umstehenden atmeten auf. Die größte Furcht der Hedero war es, dass ihre Seelen auf dem Weg zu den Ahnen in der Zwischenwelt verloren gehen könnten und auf ewig zu einem Dasein in dem grauen Nichts verdammt wären, das all den schwarzen Seelen eine Heimat war, für die es in der Welt jenseits der Pforte des Lichts keinen Platz gab.
»Ich danke Euch, Hohe Frau!« Der Stammesfürst verneigte sich und fuhr fort, wie es der Ritus verlangte: »Die Lebenden werden sich erkenntlich zeigen für den Dienst, den Ihr den Toten erwiesen habt.« Er hob die Hand und winkte einige Mädchen herbei, die in Krügen und Körben die Dankesgaben für die Geisterseherin herbeischafften. Dörrfleisch, Obst und haltbares Gemüse, Nüsse und ein großes Bündel Feuerholz waren der Lohn, den die Mitlan von den Angehörigen der Verstorbenen für ihre Dienste erhielt. Diesmal waren es gleich neun Mädchen, die die Gaben trugen, drei für jeden Toten, den es zu betrauern gab. Sie stellten die Darbringungen außerhalb des Rings aus Feuerschalen auf den Boden, verneigten sich schweigend und verschwanden wieder in der Menge. Es wurde erwartet, dass die Mitlan die Waren begutachtete und annahm, doch die Alte rührte sich nicht.
Statt zu den Körben zu gehen, hob sie die Arme in die Höhe und sagte mit altersbrüchiger Stimme. »Drei junge, kräftige Krieger wurden in der Blüte ihres Lebens aus eurer Mitte gerissen. Drei starke, tapfere Krieger, deren Nachkommen euer Dorf nun nie werden verteidigen können. Ihr trauert um sie und ihr tut recht daran, doch nicht die Trauer allein sollte euch bewegen.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, ließ die Arme sinken und den Blick langsam über die Gesichter der Umstehenden streifen. »Die Ahnen haben zu mir gesprochen«, verkündete sie mit unheilvoller Stimme. »Sie klagen … oh, sie klagen, und wie euch verlangt es auch sie nach Rache …« Wieder verstummte die Alte, doch diesmal schien es, als sei sie von der Erinnerung so überwältigt, dass ihr die Stimme versagte.
Die Hedero schwiegen ergriffen. Was hier geschah, lag jenseits des Rituals. Niemals zuvor hatte auch nur einer von ihnen erlebt, dass die Ahnen selbst bei einer Totenzeremonie zur Mitlan sprachen, und sie fragten sich, was das zu bedeuten hatte.
»Warum klagen sie?«, wagte der Stammesfürst vorsichtig zu fragen, als deutlich wurde, dass die Alte nicht von sich aus weitersprechen würde.
»Sie beklagen die Opfer.« Die Geisterseherin gab einen Laut von sich, der sich anhörte wie trockenes Laub, das der Wind über Steine weht. Langsam trat sie auf den Stammesfürsten zu und
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