Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
Fremde warf etwas ein, doch die Worte waren nicht mehr als Töne, die bedeutungslos vorbeistrichen.
Einmal fasste Miya sie an der Schulter, rüttelte sie und rief ihr etwas von »gerettet« und »werden dir helfen« zu, aber die Worte verklangen, ohne dass Yenu ihre Bedeutung begriff. Sie keuchte und taumelte. Das Bedürfnis zu schlafen wurde übermächtig. Dann umfing sie eine tröstliche Dunkelheit und verdrängte den Schmerz, der in ihrem Arm wütete.
Lass los!
Loslassen. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt. Loslassen und vergessen. Nichts war mehr wichtig. Yenu hieß die Dunkelheit willkommen wie eine Freundin, schloss die Augen und ließ sich in ihre sanften Arme gleiten.
***
Die aufgehende Sonne ließ den Himmel im Osten in hellem Silber erstrahlen, aber der Glanz schien weit entfernt. Die schroffen Gipfel des Pandarasgebirges erhoben sich wie eine riesige Mauer zwischen der Dämmerung auf der einen und Ajana und Abbas auf der anderen Seite und hüllten das Tal in Schatten, in dem die beiden ihr kurzes Nachtlager aufgeschlagen hatten.
Ajana erwachte als Erste. Sie setzte sich auf und schaute zu Abbas hinüber, der noch fest schlief. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie wusste, dass Abbas die Nacht gern in der Festung verbracht hätte, aber sie hatte darauf bestanden, sofort weiterzuziehen. Kurz bevor sie die Festung erreicht hatten, hatte sie einen Falken am Himmel gesehen und gefürchtet, dass es Horus gewesen sein könnte.
Getrieben von dem Gefühl der Eile, hatte sie der Heermeisterin Aileys einen kurzen Besuch abgestattet und sie unter einem Vorwand um einen Sattel gebeten, ohne ihr jedoch von ihren Plänen zu erzählen. Gemeinsam mit Abbas hatte sie später die kargen Vorräte ergänzt, fehlende Ausrüstungsgegenstände und Waffen besorgt und sich dann mit ihrem Begleiter und den voll bepackten Pferden noch in der Nacht wieder auf den Weg gemacht.
Im Mondschein hatten sie das Grinlortal passiert und waren von dort noch so lange weitergezogen, bis sich die Arnadebene vor ihnen auftat. Im Schatten der letzten Felsen hatten sie dann endlich eine Rast eingelegt, etwas gegessen und sich und den Pferden ein wenig Ruhe gegönnt.
Ajana überlegte, ob sie Abbas wecken sollte.
Der Wunandkrieger hatte sie weiter begleitet, als er es ursprünglich vorgehabt hatte, und schien fest entschlossen, sie nicht allein zu lassen, ganz gleich, wohin sie auch reiten würde.
Ajana streckte sich. Es tat gut, nicht allein zu sein, dennoch plagten sie Zweifel. Zu viele waren schon gestorben, um ihr Leben zu schützen. Sie fühlte sich schuldig und spürte, dass sie nicht mehr Verluste würde ertragen können.
Ich darf ihn nicht auch noch in Gefahr bringen, dachte sie bei sich. Aber wenn er sich weiterhin so hartnäckig verhält, werde ich wohl kaum etwas dagegen tun können. Andererseits kennt er die Wüste viel besser als ich und wäre mir eine große Hilfe …
Hin- und hergerissen, zwischen dem Bestreben, Abbas vor Unheil zu bewahren, und dem Wunsch, nicht allein zu reiten, richtete sie den Blick nach vorn und ließ ihn über die hügelige Landschaft schweifen. Die Steppe war ruhig und friedlich. Abbas konnte jederzeit gefahrlos nach Hause reiten. Der Gedanke beruhigte sie, und so gönnte sie sich einen Augenblick des Innehaltens, um die wildromantische Schönheit der morgendlichen Steppe zu betrachten.
Nichts rührte sich zwischen den Felsen und Klippen, die im Halbdunkel wie riesige, bizarre Wesen aus einem sandigen Ozean hervorzustoßen schienen. Weit voraus, dort, wo der Schatten der Berge dem Licht der aufgehenden Sonne wich, schien der Boden aus purem Gold zu bestehen. Das Leuchten kündete von einer Wärme, der Ajana nach der eisigen Nacht sehnsüchtig entgegenfieberte. Mit steifen Gliedern erhob sie sich von ihrem Nachtlager und weckte Abbas. Es wurde Zeit, den Ritt fortzusetzen. Die Morgenmahlzeit würden sie später einnehmen, wenn es sonnig war und wärmer.
Ein einsamer, erschöpfter Reiter passierte das große Tor der Festung in eben jenem Augenblick, da die Sonne ihr Antlitz über die schneebedeckten Gipfel des Pandarasgebirges erhob und die Bastion in goldenes Licht tauchte.
Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht war Keelin in nördlicher Richtung über die Ebene und durch die noch winterlichen Wälder geprescht, um die Festung so schnell wie möglich zu erreichen. Nur zweimal hatte er sich und seinem Pferd eine kurze Rast gegönnt, hatte
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