Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
keine der Amazonen, die den Tempel des einzigen Gottes jemals betreten hatten, war noch am Leben. Die wenigen, die es gewagt hatten, das Tempelgelände zu betreten, waren nur allzu bald gefasst worden und hatten ihren Mut mit einem qualvollen Tod bezahlt. Befreiungsversuche durch die Schwestern ihres Blutes waren meist schon im Ansatz an der Wachsamkeit der Tempelgarde gescheitert. Viele Nuur, auch Suaras Mutter, hatten bei einem dieser sinnlosen Unterfangen ihr Leben verloren. Schließlich hatte sich die Erin gezwungen gesehen, den Amazonen jeden Aufenthalt in der Nähe des Tempels zu verbieten, um zu verhindern dass der Stamm gänzlich ausgerottet wurde.
So kam es, dass kaum jemand etwas über den Tempel und die Gewohnheiten derer sagen konnte, die dort lebten. Was sie wussten, beruhte auf spärlichen und vermutlich hoffnungslos veralteten Überlieferungen sowie auf den Berichten von Reisenden, die den Tempel zum großen Opferfest besucht hatten.
Die Entschlossenheit, die Felis zu retten, war ungebrochen. Doch wie Oxana schon angemerkt hatte, stand zu bezweifeln, ob das allein genügte, um die Katzenfrau zu befreien.
Kerr knurrte leise, und Suara scheuchte die trüben Gedanken fort. Die Felis zu befreien war für sie nicht nur eine Frage der Ehre, es war auch ein willkommener Vorwand für etwas, das schon viele Winter in ihr gärte und von dem sie sich durch nichts abbringen lassen würde – dem Wunsch nach Rache. Die Krieger der Tempelgarde hatten ihre Mutter getötet, und dafür würden sie büßen.
Suara stand auf und griff nach den drei Sumpfhühnern, die sie am Nachmittag geschossen hatte. Kerr hatte Hunger. Er sollte nicht warten. Für eine Jagd würde ihm in dieser Nacht keine Zeit bleiben. Sobald auch die anderen ihre Djakûns versorgt hatten, würden sie sich auf den Weg zum Tempel machen.
Während Suara Kerr die drei Sumpfhühner hinwarf, wanderte ihr Blick zu der Katzenfrau, die von sich selbst behauptete, die Schwester der verschleppten Felis zu sein. Mit untergeschlagenen Beinen, die Hände offen auf den Knien ruhend, saß sie immer noch so da wie in dem Augenblick, da Suara sich schlafen gelegt hatte. Das katzenhafte Gesicht war dem Mond zugewandt, die Augen waren geschlossen.
Ob sie schläft? Suara wusste nicht viel über die Felis. Niemand wusste etwas. Vor vielen hundert Jahren, so die Legende, waren sie durch die Wüste gekommen und hatten sich in den Wäldern Andauriens niedergelassen. Woher sie kamen und warum sie den langen Weg durch die Wüste auf sich genommen hatten, darüber war nichts bekannt.
Felis waren durch und durch wundersame Geschöpfe, die zu gleichen Teilen das Aussehen von Mensch und Katze trugen.
Die Gliedmaßen glichen, bis auf den langen Schwanz, denen der Menschen, waren aber wie der ganze Körper von einem seidigen Fell bedeckt. Und obwohl sich die Felis zumeist auf allen vieren fortbewegten, so konnten sie auch mühelos aufrecht gehen.
Der Kopf und die Gesichtszüge hingegen besaßen große Ähnlichkeit mit denen von Katzen: Die kleinen, spitzen Ohren, die Schnurrhaare an der kurzen Nase, die spitzen Reißzähne und vor allem die geschlitzten gelben Augen ließen keinen Zweifel daran aufkommen, welches Tierblut in den Adern der Felis floss.
Auch auf allen anderen Gebieten schien es, als hätten sie nur die besten Eigenschaften der beiden Rassen für sich genommen. Eines jedoch unterschied sie von ihren Vorfahren: Anders als Menschen und Katzen bekamen die Felis nur weibliche Nachkommen, ein Umstand, der sie dazu zwang, sich in der Paarungszeit einen menschlichen Partner zu suchen, um ihr Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Meist wählten sie sich dafür einen Krieger der Hedero, doch es gab, wenn auch selten, Berichte von anderen Männern, die das Lager einer Felis geteilt haben wollten.
Vor der großen Schlacht hatte man die Katzenfrauen in Andaurien sehr verehrt. Sie besaßen unglaubliche Kräfte, und es galt als ein gutes Zeichen, wenn eine Katzenfrau in der Nähe eines Dorfes gesehen wurde. Die Felis, so hieß es, konnten tödliche Wunden heilen, darbende Felder fruchtbar machen und Wasser aus versiegten Quellen sprudeln lassen.
Doch die Zeiten, in denen solche Wunder geschahen, waren längst Geschichte. Nach der großen Schacht wurden die Katzenfrauen gnadenlos verfolgt und waren seither gezwungen, sich wie die Nuur in den Artasensümpfen zu verstecken.
Die Felis trugen keine Waffen, waren aber beileibe nicht wehrlos. Angefangen bei den spitzen
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