Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
geworden. Doch diesmal schwang darin fast unhörbar ein leiser Ton mit, den sie bisher noch nicht wahrgenommen hatte und der sie traurig stimmte: der Ruf der Veränderung und des endgültigen Abschieds. Tief in sich spürte sie, dass sie nie wieder hierher zurückkehren würde. Die wilden Tiere, die zutraulich die Nähe der Hütte und das von ihr bereitgestellte Futter gesucht hatten und die ihr im Lauf vieler Winter fast zu Freunden geworden waren, würden von nun an ohne ihre Fürsorge auskommen müssen. Von diesem Augenblick an würde nichts mehr so sein, wie es einmal war. Was die Zukunft bringen würde, blieb jedoch auch ihr verborgen.
Müde schloss sie die Augen und streckte sich auf dem versengten Gras aus. Sie war alt. Was immer das Schicksal mit ihr vorhatte, es würde warten müssen, bis sie sich ausgeruht hatte.
»Hilf mir!«
Jemand rief. Die verzweifelte Stimme strich durch den traumlosen Schlaf der Magun und zwang sie, wach zu werden. Benommen richtete sie sich auf und öffnete die schweren Lider. Es war immer noch Nacht. Nur war der Silbermond ein ganzes Stück auf seiner Bahn weitergezogen und hatte die Lichtung im Zwielicht des kleinen Kupfermondes zurückgelassen.
»Hilf mir!«
Die Magun schaute sich um. Wer konnte es sein, der mitten in der Nacht im Wald um Hilfe rief? Die Stimme war nur schwach, kaum mehr als ein Flüstern, und es klang, als dringe sie von sehr weit her zur Lichtung. Dennoch war sie so flehend und eindringlich, dass sie sich ihrer nicht verschließen konnte. So schnell, wie es ihre alten Gelenke zuließen, erhob sie sich und lauschte in die Dunkelheit hinein.
»Bitte, hilf mir!« Der Ruf kam aus der Richtung, die sie ohnehin hatte einschlagen wollen. Aus den Bergen.
Vielleicht ist es ein verletzter Burakijäger, überlegte sie und erinnerte sich daran, wie sie im Winter zuvor einen Fallensteller aus seiner eigenen Falle hatte befreien müssen. So etwas war nicht nur einmal vorgekommen. In den vielen Wintern, die sie allein in den Bergen verbracht hatte, hatte sie schon vielen das Leben gerettet, ohne sich ihnen wirklich zu zeigen. Und jede Rettung hatte ein wenig dazu beigetragen, die Legenden um die geheimnisvolle Magun weiter zu nähren.
»Magun, hörst du mich? Ich brauche deine Hilfe!«
Das war kein Burakijäger. Und auch kein Fallensteller. Noch nie hatte sie einer der Jäger beim Namen genannt. Wer immer da rief, musste sie gut kennen. Mit großen Schritten eilte die Alte über die Lichtung, um dem sonderbaren Rufen nachzugehen. Doch ehe sie in das Dunkel des Waldes eintauchte, hielt sie noch einmal inne.
Und wenn es eine Falle ist? Der Gedanke kam ganz plötzlich und unvorbereitet. Bisher hatte sie sich im Wald stets sicher gefühlt und keinen Grund zur Besorgnis oder gar zur Furcht gehabt.
Wenn das Feuer kein Zufall war? Die alte Frau überlief es eiskalt. Wenn der Angriff nun mir galt? Plötzlich kamen ihr Zweifel daran, das Richtige zu tun, und zum ersten Mal seit vielen hundert Wintern spürte sie Furcht. Was, wenn des Bösen Hand und Schatten nun auch sie erreicht hatte?
Sie musste auf der Hut sein und zögerte, den Wald zu betreten.
»Magun!« Diesmal erklang der Ruf ganz in der Nähe. »Ich bin hier!«
Verwundert blickte sich die Magun um, konnte aber niemanden entdecken. Dann senkte sie langsam den Kopf und schaute nach unten, wo unmittelbar neben ihr eine gefrorene Pfütze im Mondlicht schimmerte. Gedankenverloren ließ sie den Blick über die glatte Fläche schweifen – und erstarrte.
Unter der Eisschicht schien sich etwas zu bewegen!
Verunsichert, ob sich ihre altersmüden Augen vom Mondlicht hatten täuschen lassen, kniete sie sich in den Schnee, beugte sich über die Pfütze und stieß einen erstaunten Laut aus. Aus dem Eis blickte ihr ein Gesicht entgegen – zumindest der Teil eines Gesichts. Doch obwohl der Rest von einem großen Hut fast völlig verdeckt wurde, wusste sie gleich, wer es war.
»Wanderer?«, stieß sie fassungslos hervor und fragte: »Große Mutter, was ist geschehen? Wo bist du?«
»Magun! Den Göttern sei Dank, ich fürchtete schon, er hätte auch dich überlistet.« Die Stimme des Wanderers war nun deutlicher zu verstehen, klang aber weiterhin, als käme sie aus weiter Ferne zu ihr. »Ich bin gefangen. An einem Ort, den nur du erreichen kannst. Dort, wo alles begann … Der eine, der nach der Macht trachtet, hat mich in die ewigen Nebel verbannt. Einer der schlafenden Götter ist erwacht, und ich wollte …« Die
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