Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Stimme wurde so leise, dass sie kaum mehr zu verstehen war. Auch das Bild verblasste. Doch wenige Herzschläge darauf blickte es ihr erneut entgegen:»… müssen ihn aufhalten, bevor er sein Ziel erreicht«, hörte die Magun den Wanderer sagen. »Bitte hilf mir. Ich muss …«
Wieder verschwand das Bild, und diesmal kehrte es nicht zurück. Aber die Magun hatte genug gesehen und gehört. Der Wanderer war in Gefahr! Die furchtbare Gewissheit ließ ihr Herz schneller schlagen. Er war einer der Letzten, die es noch wagten, sich dem dunklen Gott entgegenzustellen, und mehr noch – er war ihr Freund, und er war in Not.
Dort, wo alles begann …
Die Beschreibung war mehr als dürftig, dennoch hatte sie keinen Zweifel daran, wo man ihn gefangen hielt. Die Magun ballte die Fäuste. Sie würde ihn nicht im Stich lassen. Nicht nur sein Leben, auch das Schicksal Nymaths und der freien Völker stand auf dem Spiel. Sie musste ihm helfen.
»O Große Mutter, das ist zu viel für eine so schwache alte Frau wie mich«, murmelte sie halblaut vor sich hin, während sie ihre Schneeschuhe zur Hand nahm und hineinstieg. Der Weg, den zu beschreiten nur Wenigen gestattet war, würde lang und beschwerlich sein. Ihr Ziel lag viel weiter entfernt als das Tal der Vaughn, ja sogar weiter als das ferne Sanforan. Sie war ihn erst ein einziges Mal gegangen, damals, als sie noch jung und das Land noch friedlich gewesen war, aber sie spürte, dass sie auch jetzt noch die Kraft dazu besaß. Wenn sie getreu blieb und das Ziel nicht aus den Augen verlor, würde sie ihn gewiss wieder finden, den geheimnisvollen, sagenumwobenen Weg zu der Stätte, an der der Wanderer ihr einst das Tor zur Welt der Götter gezeigt hatte.
Kurz vor Sonnenaufgang schreckte Ajana in Schweiß gebadet auf, aus dem Schlaf gerissen von einem furchtbaren Albtraum, der sie in der Nacht mehrfach heimgesucht hatte. Wieder und wieder hatte sie sich vor der Hängebrücke stehen sehen, so häufig, dass sie inzwischen nicht mehr sagen konnte, wie oft. Immer wieder aufs Neue hatte sie die furchtbare Angst durchlebt, die sie beim Anblick der Brücke gepackt hatte.
Unzählige Male hatte sie sich im Traum über den bodenlosen Abgrund getastet, auf einer Brücke, deren Steg erst dünner als ein Seil und dann wieder armdick war und der urplötzlich verschwand, wenn sie mitten über dem Abgrund stand. Auch die Halteseile schienen in den Träumen ein Eigenleben zu entwickeln. Einmal verwandelten sie sich ganz unvermittelt in zischende Schlagen, die mit geifernden Mäulern nach Ajana schnappten, dann wieder waren sie so morsch und brüchig, dass sie unter ihren Fingern zu Staub zerfielen. Eines jedoch hatten die Träume gemeinsam: Sie alle endeten mit dem grauenvollen Gefühl des freien Falls, furchtbaren Todesängsten und einem gellenden Schrei, der aus ihrer Kehle drang, wenn sie in die Tiefe stürzte.
Auch diesmal war es dieser Schrei gewesen, der sie aus den Fängen des Albtraums riss und in die Wirklichkeit zurückführte. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und schaute sich um. Über ihr funkelten noch immer die Sterne, doch weit im Osten kündigte ein erster grauer Schimmer bereits den nahenden Morgen an. Auf der anderen Seite des heruntergebrannten Feuers hatten sich Bayard und Maylea neben Inahwen und Ghan zur Ruhe gelegt. Dahinter sah sie die schemenhaften Gestalten von Artis und Tarun, die bis zum Sonnenaufgang Wache hielten und das Nachtlager der Uzoma nicht aus den Augen ließen.
Leise Atemgeräusche lenkten ihre Aufmerksamkeit auf Keelin. Der junge Falkner lag in seine Decke gehüllt neben ihr. Er hatte mit Ghan die zweite Nachtwache übernommen und schlief jetzt fest. Zweimal hatte er Ajana in der Nacht tröstend in den Arm genommen, um den Nachhall der ausgestandenen Ängste zu vertreiben. Doch so sehr sie seine Nähe auch genossen hatte, die Furcht erregenden Träume hatte er nicht verhindern können.
Diese Brücke zu überqueren war für sie das Schlimmste gewesen, das sie jemals erlebt hatte. Schlimmer noch als die Furcht vor dem Ajabani auf dem Weg zum Arnad und grauenhafter als die Todesängste, die sie ausgestanden hatte, als sie von den Uzoma gefangen genommen wurde.
Diese Brücke war der Inbegriff allen Schreckens. Selbst jetzt konnte sie es immer noch nicht fassen, dass sie die andere Seite der Schlucht überhaupt erreicht hatte. In ihren Gedanken gab es nichts als die Erinnerung an die Furcht und die Bilder des gähnenden Abgrunds.
Schon ein einziger
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