Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
geblähten Nüstern in eine Richtung starrten. »Nach Norden!«, stieß sie angespannt hervor. »Horus muss nach Norden fliegen. Schnell!«
Keelin zögerte nicht. Unverzüglich erteilte er dem Falken den Befehl, der bereits aufgestiegen war und über ihnen in der Luft kreiste. Schon im nächsten Augenblick schoss Horus wie ein Pfeil davon.
Weit kam er nicht.
»Gilians heilige Feder!« Keelins fassungslose Worte wurden von Artis’ Warnruf fast übertönt, der aufregt nach Norden deutete. Alle wandten den Blick in die gleiche Richtung – und erstarrten!
Am fernen Horizont verdeckte eine dunkle Wolke den Himmel. Eine gewaltige rote Wolke, die nichts mit einer normalen Himmelserscheinung gemein hatte.
Eine lähmende Furcht packte Ajana. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass es ein so beängstigendes Naturschauspiel geben könnte. Über eine Breite von mehreren Kilometern türmte sich die Wolke wie eine gewaltige Flutwelle aus Staub, Steinen und rotem Sand, so hoch wie ein Kirchturm. Das Schlimmste jedoch war: Die Woge raste direkt auf sie zu!
»Ein Sandsturm!« Kruins Warnruf erhob sich über das allgemeine Durcheinander aus hektischen Rufen, angstvollem Wiehern und dem Röhren der Talpungas. »Er kommt direkt auf uns zu!« Der Stammesfürst riss einen Wasserschlauch an sich und öffnete ihn. »Ihr müsst ein Tuch oder den Ärmel des Gewandes befeuchten – schnell!«, rief er den anderen zu, während er selbst schon damit begann. »Haltet es Euch während des Sandsturms vor Mund und Nase«, wies er sie an. »Bleibt dicht beieinander und kauert Euch auf den Boden, bis der Sturm abgeklungen ist. Und denkt an Eure Habe! Versucht alles festzuhalten, was der Sturm davonwehen könnte, sonst ist es unwiederbringlich verloren.« Er deutete auf die Talpungas, die sich auf die Erde niedergelassen hatten und sich eng aneinander drängten. »Am besten, Ihr sucht Schutz hinter den Talpungas. Ihre Körper werden die Wucht des Sturmes mildern.«
Eilig kamen alle der Aufforderung nach. Da Ajana kein Tuch hatte, tränkte sie den Ärmel ihrer Jacke mit Wasser, klaubte ihre wenige Habe zusammen und eilte zu den anderen, die schon im Windschatten der gehörnten Höckertiere kauerten.
Die Tasche mit dem Lavinci fest an sich gepresst, beobachtete sie, wie Bayard die beiden Pferde zu beruhigen versuchte, um sie in die Nähe der Talpungas zu bringen. Die Tiere waren außer sich vor Furcht, und er hatte große Mühe, sie zu halten. Immer wieder stiegen die Rappen, und einmal entging er nur knapp den wirbelnden Vorderhufen.
Ajana sah, welche Mühe er hatte, und wollte aufspringen, um ihm zu helfen. Doch Artis kam ihr zuvor und nahm die Zügel des einen Pferdes an sich. Für einen Augenblick wunderte Ajana sich, warum der Onur-Heermeister seinen Proviant und Wasservorrat geschultert hatte, dann wurde es ihr klar. Artis hatte gar nicht vor, Bayard zu helfen. Kaum dass er die Zügel in der Hand hielt, schwang er sich mit einem gekonnten Satz auf den Rücken des einen Pferdes und hieb dem völlig verängstigten Tier mit den Worten »Wenn ihr glaubt, dass ich mich von diesem verdammten Uzoma wie ein blinder Narr in eine tödliche Falle locken lasse, dann irrt ihr euch!« die Fersen in die Seiten. Der Rappe reagierte sofort. Als er spürte, dass ihn nichts mehr zurückhielt, preschte er los. Im weit ausgreifenden Galopp trug er seinen Reiter durch die Wüste, in der Hoffnung, dem drohenden Unheil durch eine schnelle Flucht zu entkommen.
»Artis!«, brüllte Bayard dem Heermeister nach. »Bist du von Sinnen?« Doch der Onur-Heermeister schien ihn nicht mehr zu hören. Dafür nutzte der zweite Rappe augenblicklich die kurze Unaufmerksamkeit des Katauren. Mit einem kraftvollen Ruck riss sich das Pferd los und galoppierte, dem anderen in wilder Panik folgend, nach Süden.
»Artis!« Der Ruf des Namens kam einem Befehl gleich, dennoch ahnte ein jeder, dass der Heermeister nicht zurückkommen würde.
»Heermeister, schnell!« Winkend forderte Kruin Bayard auf, er möge endlich in Deckung gehen, aber dieser starrte den flüchtenden Pferden immer noch fassungslos hinterher.
Die Szene war geradezu gespenstisch. Obwohl das Unwetter schon bis auf hundert Schritte herangekommen war, herrschte Totenstille. Kein Wind regte sich, und kein einziges Geräusch drang aus der wirbelnden Sturmwolke zu ihnen herüber. Und Bayard stand wie gelähmt und schien es nicht einmal zu bemerken.
Als sich das Unwetter bis auf fünfzig Schritte genähert
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