Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
ihr tagsüber keine Zeit dafür blieb. Dann kamen Kunden und gingen, fragten nach Zubehör oder ließen sich beraten; sie stöberten in Caris Sortiment an Abendgarderobe und Ballkleidern und stolzierten in den Roben in Caris luxuriöser, mit sternenförmigen Lämpchen ausgestatteter Umkleidekabine umher. Unter der mitternachtsblauen, mit Samt dekorierten Garderobendecke tanzten gläserne Feen um silberne Spiegel – beinahe wie eine Szene aus Shakespeares »Sommernachtstraum«.
Sie spähte wieder hinaus. Er stand immer noch da. Kein typischer Brighton-Student. Bestimmt kein Engländer, dieser große Dunkle mit dem südländischen Aussehen und dem intensiven Blick.
Cari vermied jede Bewegung. Wie lange würde sie so reglos wie ihre Schaufensterpuppen dastehen können? Ob sie die Polizei rufen sollte? Klar doch! Um ihr zu erzählen, dass ein Mann ganze sieben Minuten in ihr Schaufenster gestarrt hatte? Das konnte sie sich sparen.
Und wenn sie Dan anriefe? Er würde binnen einer Minute hier aufkreuzen, stets bereit und überglücklich, sie retten zu dürfen. Fragte sich nur, wovor sie eigentlich gerettet werden wollte. Wie war das noch mit der Eigenständigkeit? Ihre Phantasie trieb Blüten. Dass dieser Mann vor dem Schaufenster stand, konnte eine Unzahl von Gründen haben. Trotzdem würde sie warten, bis er gegangen war, und erst danach das Geschäft verlassen. Cari fröstelte.
Sie war wie gelähmt. Nahezu unmerklich machte sie einen Schritt vorwärts und kam sich dabei wie ein Einbrecher im eigenen Haus vor. Der Mann trug ein eng anliegendes weißes T-Shirt, eine Lederjacke und eine eng sitzende Jeans, was ihr geschultes Auge wohlwollend zur Kenntnis nahm. Zugegebenermaßen kein schlechter Körperbau. Dieser Mann wirkte nicht im Geringsten gefährlich – im Gegenteil, eher ziemlich sexy. Aber auch Brighton hatte dunkle Seiten, und Cari wollte nichts herausfordern.
Unvermittelt drehte er sich um und ging davon. Einfach so. Cari sah ihm nach, als er die Straße hinunterspazierte und um die Ecke bog. Erleichtert atmete sie auf. Was war nur los mit ihr?
Sie trat an die Kleiderständer und glättete die Roben ein wenig. Weshalb hatte dieser Mann sie so verwirrt? Sie war sich geradezu entblößt vorgekommen. Irgendwie schutzlos. Weshalb wohl? Aber sie fand keine Erklärung dafür, spürte nur noch dieses eigenartige Gefühl. Ein Gefühl, das weder mit Dan zu tun hatte noch mit ihrer unvorstellbar heimlichtuerischen Mutter, die ihr nichts über ihre Familie erzählte. Ein winziger Funke war in ihr entzündet worden, aber das war auch schon alles.
Ihre Spontaneität hatte – zugegebenermaßen – in den letzten Jahren nachgelassen. Nein, nein, es liegt nicht an Dan, beschwichtigte sie sich rasch. Dank Dans Rechtschaffenheit fühlte sie sich nicht mehr so unsicher. Außer ihm hatte sie nur noch ihre Mutter. Aber heute Abend würde diese coole, mondäne Mutter bis in die Morgenstunden feiern. Sich auf einer Party vergnügen. Leben … Cari runzelte die Stirn. Empfand sie selbst deshalb dieses eigenartig bohrende Gefühl?
Wo mochte ihre Mutter heute Abend sein? Ehe sie aus dem Haus ging, hatte sie Cari angerufen. Arbeite nicht zu viel, Schätzchen! , hatte sie gesagt.
»Pass auf dich auf!«, hatte Cari ihr geantwortet, ohne sich zu erinnern, wann dieser Rollentausch stattgefunden und sie begonnen hatte, sich um ihre Mutter zu sorgen. Ihr war klar, dass Tasmin gefährlich nahe am Abgrund tanzte. Cari konnte es zuweilen an den Augen ihrer Mutter erkennen, die übermäßig funkelten – wie die Klinge eines Messers.
Cari rief sich ihre Termine am Montag in Erinnerung, öffnete die Ladentür und trat in die Nacht hinaus. Eine frische Brise strich über ihre Wangen. Plaudernde, lachende Fußgänger wanderten vorüber; Jazzrhythmen schallten aus der Kensington Bar auf der anderen Straßenseite zu ihr herüber. Brighton an einem Samstagabend. Sie liebte diese Atmosphäre. Alles war wie gewohnt. Cari schloss die Ladentür ab und wandte sich zum Gehen.
Oh, nein! Sie schluckte. Er war wieder da. Der Mann, der sie durch die Scheibe beobachtet hatte, stand plötzlich lächelnd vor ihr.
Tasmin zwängte sich an zahllosen schwitzenden Gästen vorbei, die rauchend, trinkend und flirtend in der Küche standen. Im Laufe der letzten dreißig Jahre hatte sie viele dieser Partys besucht: ein ausgelassenes Völkchen sowie eine beeindruckende Menge an Canapés, Sushi und teuflischen Desserts. Die Musik war so laut, dass sie sich
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