Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
dir nicht«, sagte sie schließlich.
»Denkst du etwa, ich habe mir das alles ausgedacht? Nach all den Jahren?« Gail ließ den Blick durch den Park schweifen.
Tasmin fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
Gail legte begütigend den Arm um Tasmins Schultern. »Es tut mit leid, aber ich war der Meinung, du solltest die Wahrheit erfahren.«
Tasmin schüttelte den Kopf. Die Wahrheit? Nach all den Jahren? »Verschwinde!«, murmelte sie. »Verschwinde einfach, okay?« Sie hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge und musste an die Briefe ihrer Mutter denken, an den wunderschönen Bernsteinanhänger, an einen weit zurückliegenden Tag, an dem Mutter die Hände um ihr Gesicht gelegt und ihr gesagt hatte, wie lieb sie ihre Tochter habe. »Mein schönes Mädchen«, hatte sie geflüstert. Mein schönes Mädchen .
Dann erinnerte Tasmin sich an ihren Vater, den sie geradezu angebetet hatte …
»Entschuldigung.« Sie war beinahe überrascht, als sie wieder im Haus war und sah, dass er auf sie gewartet hatte.
Er zuckte die Achseln. »Keine Ursache.«
Tasmin leerte das Weinglas in einem Zug.
»He!« Er lächelte. »Willst du mich auf einen Trip begleiten?«
»Auf einen Trip?«
Er öffnete die Faust. In seiner Handfläche lagen zwei kleine weiße Tabletten. »Eine für dich«, sagte er, »und eine für mich.«
Tasmin zögerte. Es war noch nicht zu spät, oder? Nicht zu spät, um neue Beziehungen zu knüpfen, sich zu entspannen und Dinge aus der Vergangenheit ungeschehen zu machen.
Sie nahm eine Tablette. Warum nicht, dachte sie. Das andere konnte bis morgen warten. Heute Abend wollte sie mehr denn je einfach nur vergessen.
K
apitel 2
Die Luft war seidenweich und die Nacht still. Nur die Wellen rauschten leise. Aurelia saß auf den Kieseln, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Sie war schon immer gern allein gewesen. Vermutlich, weil es so viel nachzudenken gab. Hätte sie dieses und jenes anders machen können? Hätte sie das eine oder andere überhaupt anders machen wollen? Und die wichtigste Frage überhaupt: War es mittlerweile vielleicht schon zu spät?
Eine erwartungsvolle Stimmung lag in der klaren Frühlingsluft. Jenseits der Bucht blinkten die Lichter von Tellaro mit seinen hohen, schmalen Häusern, die in das felsige Vorgebirge gehauen waren. Shelley, Byron, D. H. Lawrence hatten in dieser Bucht gelebt. Il Golfo dei Poeti , die Bucht der Dichter. Vermutlich hatten auch sie sich dem besonderen Reiz der Küste nicht entziehen können.
Das ist meine Heimat, dachte Aurelia. Ligurien. Der südlichste Punkt der italienischen Riviera, ehe der Landesteil in die Toskana übergeht. Sie stand auf. Diese Gegend hatte ihr Herz erobert und ließ sie nicht mehr los. Sie hatte die Umgebung im Bild festgehalten. Die terrassierten, bewaldeten Hügel, die wilde, unversöhnliche Küste, das Aquamarinblau des Golfo della Spezia . Sie war der verlockenden Landschaft erlegen.
Aurelia verstaute ihren Skizzenblock und die Stifte. Sie wusste, dass sich ihre Arbeit in ihrem neuen Zuhause widerspiegelte. Alfonzo, Inhaber der Galleria D’Arte in Tellaro, in der sie ihre Arbeiten ausstellte und zu Preisen verkaufte, die ihr immer wieder den Atem verschlugen, schwärmte von der Fülle, der Tiefe, von ihrem »inneren Auge«. Nun ja … Aurelia war sich bewusst, dass das, was sie auf Leinwand oder Papier gebannt hatte, nur ein Bruchteil dessen war, was dieser Landstrich ihr geschenkt hatte – ihr als Künstlerin und auch als Frau. Mochte es noch so seltsam klingen, es entsprach der Wahrheit.
Vorsichtig erhob sie sich. Heimat. Ja. Dennoch verging kein Tag, an dem sie nicht an den Ort dachte, den sie verlassen hatte. Ihn und seine Bewohner. Täglich fragte sie sich, wie es ihnen ergehen mochte. Zugleich überlegte sie, wie es dazu kommen konnte, dass sie all das verloren hatte. Und wie es ihr gelungen war, trotzdem weiterzumachen.
Sie wandte sich um, blickte zurück auf die Reihe duftender Zwergkiefern, wo Sand und fester Boden aufeinandertrafen. An deren anderem Ende befanden sich bröckelnde Steinstufen, die zu einem schmiedeeisernen Tor führten. Im Mondlicht nahm Aurelia nur dessen Umrisse wahr, doch sie wusste, dass die Glyzinie bereits blühte, die sich um das Spalier des Eingangs zu Enricos Park rankte. War es ihr Garten? Nein, nicht wirklich. Hinter dem Tor stand Enricos schönes, weiß getünchtes Haus mit Möbeln aus Kastanienholz und in kühlen, klaren Farben gestrichenen Wänden, Holzböden, Wollteppichen,
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