Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
verschwinden.« Sie sah ihn eindringlich an, während er immer noch lächelte. »Und nie wieder hier aufzutauchen.«
»Aber meine Freundin …«
»Wenn sie kommt …« Cari trat einen Schritt zurück. »Falls sie kommt … Falls es sie überhaupt gibt …«
Erneut zuckte er mit den Schultern. Und Cari ebenso. Zu zweit konnte man dieses Spiel gut spielen. »Sagen Sie ihr, sie soll allein kommen. Ohne Sie.«
Er wirkte sichtlich enttäuscht.
Ihre Worte hatten offenbar gesessen. Er war nun mal kein Kunde. Und noch dazu dieses Benehmen … Man musste es diesem Mann auf den Kopf zu sagen. Cari drehte sich um und machte sich auf den Nachhauseweg, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Ärger war das Letzte, was sie in ihrem Leben brauchte.
Kurz vor Mitternacht wurde Tasmin auf eine Frau aufmerksam. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie sie bereits auf der Party gesehen, noch dazu mehrfach, sie aber nicht erkannt. Na ja, immerhin lag ihre letzte Begegnung dreißig Jahre zurück.
In der Sekunde des Wiedererkennens flackerte die konkrete Erinnerung an die Achtzehnjährige von einst auf. Der Mann mit dem verhangenen Blick zog Tasmin an sich. Sie protestierte nicht. Er duftete nach Frühling, nach frisch geschnittenem Gras. Tasmin bemühte sich, locker zu bleiben. Sie musste sich entscheiden. Sollte Gail Sanderson tatsächlich hier sein? Würde sie, Tasmin, mit ihr reden wollen oder nicht? Wollte sie die Erinnerung an vergangene Zeiten wachrufen?
»Du bist plötzlich so angespannt«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Möchtest du dich vielleicht in meiner Wohnung ausruhen?«
Tasmin legte den Arm enger um seine Taille. »Lieber nicht«, antwortete sie. Obwohl er sexy war und tanzen konnte und ihr helfen würde zu vergessen – zumindest für eine Weile.
»Dann wenigstens einen Drink«, schlug er vor.
»Gern.« Die Frau, die Gail von einst, wanderte auf der Veranda auf und ab und fuhr sich wie früher nervös mit der Hand durchs Haar. Unverkennbar.
Tasmins Tanzpartner bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden. So viele Männer – unglaublich, dachte sie. Verlor Ariadne etwa den Faden?
Nein. Sie wollte Gail nicht begrüßen. Gail war Teil ihrer Erinnerungen – und davon spukten noch immer viel zu viele in ihrem Kopf herum.
»Tasmin!«
O nein, das durfte doch nicht wahr sein! Nun stand sie tatsächlich vor ihr. »Gail?«
Schon schlang Gail die Arme um die einstige Freundin.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Tasmin, um ein Lächeln bemüht. Das Alter hatte bei Gail eindeutig Spuren hinterlassen. Der Hals war runzlig, zu viel Lippenstift haftete in den Fältchen um den Mund. Außerdem war sie zu dünn. Fast schon hager. Aber ihr Blick hatte nichts an Intensität eingebüßt. Tasmin spürte nach wie vor eine gewisse Nähe zu der langjährigen Freundin und erinnerte sich sogleich an die zahlreichen Wochenenden, die sie kichernd gemeinsam verbracht hatten. Sie hätte zu gern gewusst, wie es Gail in all den Jahren ergangen war, doch zugleich wollte sie Distanz wahren.
»Gut.« Gail musterte sie von Kopf bis Fuß. »Du hast dich kaum verändert.«
»Unsinn!«
»Und jetzt erzähl mir bloß noch, dieser appetitliche Tänzer ist dein Mann.« Gail hakte sich bei Tasmin ein.
Tasmin wollte nicht unfreundlich erscheinen. Sie wusste, dass sie bei einigen Leute als unleidlich galt und kaum jemand (allenfalls Cari und Edward) ihre andere Seite kannte. Aber woher sollten die anderen auch ahnen, was wirklich in ihr vorging und dass niemand ihr zu nahekommen durfte? Sie hatte schon viele Menschen verloren, die ihr nahegestanden hatten. Genau das geschah in Familien wie ihrer und passierte Menschen wie ihr. Die Folge davon war, dass man verletzt wurde, und zwar zutiefst. Nein, sie wollte nicht unfreundlich wirken, aber ebenso wenig wollte sie mit ihrer ehemaligen Freundin am Arm spazieren gehen.
Doch Gail führte sie hinaus in den Garten. »Immer wieder muss ich an diesen einen Sommer denken«, sagte sie.
»Ach, wirklich?« Trotz der vielen Menschen empfand Tasmin die herrlich duftende Nachtluft nach der verrauchten Atmosphäre auf der Tanzfläche als angenehm. Sie waren umgeben von Dunkelheit. Es war die Anonymität, die sie immer wieder auf Partys zog, eine Möglichkeit zur Flucht. Flucht vor der Vergangenheit. Nun fiel ihr die Libelle wieder ein. Es ist eine Schlankjungfer, eine Kleinlibelle, hatte Edward gesagt, als sie ihm das Insekt, das in warmem, durchsichtigem Bernstein eingeschlossen war, in einem schwachen
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