Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
sie würde vorerst nichts sagen. Aber sie drückte seinen Arm. Es klang ganz so, als wolle Stefano Detektiv spielen, und das hielt sie für keine gute Idee. »Sei vorsichtig!«, mahnte sie.
Ja, es war ein schöner Abend gewesen. Aber jene Erinnerungen ließen sich nicht länger verdrängen. Seit dem Morgen waren ihre Gedanken viel zu häufig in ihre Kindheit zurückgewandert, eine Zeit, die wie der Sog des Ozeans bis gestern im Verborgenen geblieben war. Um Himmels willen … Wie hatte sie dieses lebensbedrohliche Ereignis so lange ausblenden können?
Aurelia hielt inne und betrachtete die Farben, die sie angemischt hatte. Zu hell, zu türkis. Sie mischte erneut. Und dann die gelben Kleckse – für die Spiegelungen des Sonnenlichts vielleicht –, impressionistische Lichtpunkte, die das Ganze abrunden und die Atmosphäre schaffen würden, die sie einzufangen suchte.
Und warum hatte sie diese Erinnerung verdrängt? Na ja, das war vielleicht einfacher zu beantworten. Nachdenklich blickte sie hinaus aufs Meer. War das möglich? Hatte ihr Vater tatsächlich am Strand gestanden und tatenlos zugesehen, wie sie beinahe ertrank? Wenn dem so war, würden vermutlich alle versuchen, es zu vergessen. Zumindest wenn sie sich ihr seelisches Gleichgewicht einigermaßen erhalten wollten. Ihr fiel die Zeile aus Larkins Gedicht ein. They fuck you up your mum and dad … Sie tun es nicht absichtlich, hatte er gesagt. Aber hatte Hugh es beabsichtigt? Hatte ihr Vater sie wirklich so sehr gehasst, dass er ihren Tod wollte?
Szenen ihrer Kindheit tanzten vor ihrem inneren Auge, reihten sich am Horizont auf und schienen sich über sie lustig zu machen. Ihr spartanisch eingerichtetes Kinderzimmer mit der verblassten braunen Tapete und den dunklen, muffigen Möbeln. Nein, wozu sollen wir es gelb streichen … Der Abend nach der Feier ihres zehnten Geburtstags, als sie am Treppenabsatz vor dem Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen stand, in der Hoffnung, darin eine Antwort zu finden. Wer bin ich? Warum lebe ich? Was kann ich tun, damit mein Leben schöner wird? Es war der einzige Spiegel, in dem sie sich ganz sehen konnte – mit Ausnahme des Spiegels im Schlafzimmer ihrer Eltern, aber das durfte sie seit kurzem nicht mehr betreten. Ebenso wenig durfte sie morgens auf Mutters Bett klettern, um sich an sie zu kuscheln. Du bist schließlich kein Baby mehr. Also benimm dich gefälligst auch nicht so!
Aber hatte er sie gehasst?
Manchmal, wenn er außer Haus war und Mutter im unteren Stockwerk und Dorrie anderswo beschäftigt war, hatte sie den Kopf zur Schlafzimmertür hineingesteckt, gerade lang genug, um einen Blick auf die eisblaue Tagesdecke und die Frisierkommode mit ihrem Sammelsurium aus Tiegeln, Flakons, Bürsten und Tuben zu werfen und den Duft von Mutters Parfum auszumachen, der noch in der Luft hing, den Duft von Puder und Rosen, überlagert von Vaters strengem Geruch – der Pomade, die er benutzte, um sein Haar zu glätten, der Seife, die nach Teer roch. Dieser Geruch verstopfte ihr die Nase, bis sie glaubte, daran ersticken zu müssen. Wie sollte sie nur Luft bekommen? Rasch schloss sie die Tür, aber das half nichts, sie musste in die Küche rennen, um einen Schluck Tee oder Wasser zu trinken. Nie gab es selbstgemachte Limonade, nie etwas Süßes, das man sich genüsslich auf der Zunge zergehen lassen konnte, und sei es auch nur für einen Augenblick. Es war ihr Zuhause, aber manchmal fürchtete sie es in dem Maß, wie sie es verabscheute.
Hatte er sie gehasst?
Sie erinnerte sich an das neue Kleid, das sie zum Geburtstag bekommen hatte. Maßgeschneidert, mit fünf Knöpfen und einem steifen weißen Kragen, der kratzte. An einer Stelle am Hals scheuerte er ganz besonders, und als sie das Kleid an jenem Abend auszog, war die Stelle stark gerötet. Wozu brauchst du ein Partykleid? Sie sah aus wie eine Vogelscheuche. Das war es, was mit ihrem Leben nicht stimmte. Sie hatte sich ein Puppenhaus gewünscht mit winzigen Möbeln und Miniaturpüppchen, die sie von Raum zu Raum bewegen konnte, ganz wie es ihr gefiel. Eine Welt, die nur ihr gehörte. Und was hatte sie bekommen? Ein Paar vernünftige schwarze Schuhe und das Kleid mit dem weißen Kragen. Nützliche Geschenke. Geschenke für ein heranwachsendes Mädchen, das viel zu schnell wuchs. Nichts für ein Baby. Nichts, woran sie sich erfreuen konnte. Nichts, was ihr helfen konnte, einen Raum in ihrem Innern zu finden, der ihr ganz allein gehörte.
Du kannst dich glücklich schätzen.
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