Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
auch wenn es ein Opfer bedeutet hatte. Aber hatte sie sich ihm je mit leuchtenden Augen zugewandt und ihm versichert, dass sie ihn liebe? Gewiss nicht in Aurelias Gegenwart. Wenn sie so darüber nachdachte, grenzte Marys Verhalten eher an Furcht als an Leidenschaft, eher an Erdulden als an Liebe.
Ach ja … Draußen auf dem Meer schaukelten noch mehr Fischerboote, und Aurelia beschloss, sie erst später einzufügen, vielleicht zu Hause. Sie griff nach ihrem Skizzenblock und dem schwarzen Stift und machte eine Vorstudie. Sie spürte eine Spannung in der Luft, eine unheimliche Stille und eine Schwüle, die sich in der letzten halben Stunde aufgebaut hatten. Aurelia war diese Stimmung nicht neu. Enrico hatte sie in den vergangenen Jahren viele Male darauf aufmerksam gemacht. Er hatte die Stirn gerunzelt und in den Himmel und zum Horizont gestarrt, als hielte er Ausschau nach etwas, und achtete auf das leiseste Blätterrauschen oder auf die wie wild umherkrabbelnden Ameisen. Dabei war er in Gedanken bei seinen geliebten, wertvollen Trauben und Oliven, wohl wissend, dass ein Unwetter im Spätsommer sie vernichten oder auf jeden Fall entscheidende Auswirkungen auf die Qualität des Weins und des Öls haben konnte … Eine gute Ernte hing sowohl vom richtigen Zeitpunkt als auch vom Wetter ab. Mutter Natur konnte ebenso zerstörerisch wie lebenspendend sein.
Aurelia arbeitete rascher, da sie nun wusste, dass das Gewitter bald losbrechen würde. Wenn Mary so empfand, warum hatte sie ihn dann geheiratet? Aber das fragte die Richtige! Diese Frage hätte man genauso gut ihr stellen können. Manche hatten es auch getan.
»Warum hast du ihn geheiratet?«, hatte Ruth sie oft gefragt.
»Warum hast du ihn geheiratet?«, echote Stanley, Richards Regisseur. Stanley hatte sie, Aurelia, geliebt – das hatte sie immer gewusst. Vielleicht war es auch Richard nicht verborgen geblieben, da der arme Stanley Richards Verachtung immer ganz besonders zu spüren bekam. Dieser hässliche Zwerg …
Aber Aurelia hatte diesen kleinen Mann gemocht. Mehr war da allerdings nicht, jedenfalls nicht das, was sich Stanley erhofft hatte. Stattdessen hatte sich zwischen ihnen eine Beziehung entwickelt, die ihr wie Ruths Freundschaft geholfen hatte, zu überleben, stark zu bleiben, fortzugehen.
Nachdem sie mit der Skizze zufrieden war, blickte sie wieder hinaus aufs Meer. Es bereitete sich auf seinen großen Auftritt vor. Wind war aufgekommen, der ihr zweimal fast den Sonnenhut vom Kopf wehte, die Wellen schlugen höher, und wenn sie gegen die Felsen krachten, waren ihre Schaumkronen nicht mehr zart wie Spitze, sondern eine Gischt wie von funkelnden Diamanten, die als ein Feuerwerk aus Wassertropfen aufspritzte.
War dieses Ereignis – dass sie in ihrer Kindheit beinahe ertrunken wäre – der Grund, warum Mary bei jedem Besuch in Cornwall so in Sorge um ihre Tochter gewesen war? Und waren sie letztendlich deswegen nie mehr dorthin zurückgekehrt?
Die Wellen türmten sich höher. Aurelia war unentschlossen. Sollte sie die rollende Brandung mit einbeziehen? Wo der Himmel verschwommen azurblau gewesen war, leuchtete er nun in der Farbe von Quecksilber, und auch das Meer sah jetzt kälter aus, in das Blau hatte sich ein Granitgrau gedrängt. Oder sollte sie lieber gleich ihre Sachen packen und nach Hause fahren?
Nun gut, vielleicht war es das Meer, das Mary in Cornwall Sorgen bereitet hatte. Aber bei diesem letzten Aufenthalt in Port Isaac hatte die Tatsache, dass sie einen Tagesausflug mit ihrer Großmutter gemacht hatte, Hugh zu der Bemerkung veranlasst: So, jetzt ist Schluss, es reicht … Das ergab doch überhaupt keinen Sinn! Gramma Hester hatte nichts Schlimmes getan. Nicht sie hatte dabeigestanden und zugesehen, wie …
Es sei denn …
Schon einmal war sie an diesem Punkt angelangt. Diese drei Wörter tanzten wie Kobolde in ihrem Kopf herum. Aber im Augenblick war es einfach zu viel.
In der Ferne sah sie einen Hubschrauber über dem Meer vor La Spezia schweben. Was war da los? Es war kein Rettungshubschrauber. Wusste der Pilot denn nicht, dass ein Unwetter drohte? Es war ein gefährlicher Zeitpunkt für einen Rundflug.
Und nicht mehr die geeignete Stimmung, um zu malen.
Aurelia packte ihre Sachen zusammen. Der Wind peitschte die Palmen entlang der Küstenstraße, düstere Wolken zogen auf. Bald würde es regnen. Sie musste nach Hause, musste sich beeilen, ihr Auto auf dem Hügel zu erreichen, ehe die ersten Tropfen fielen.
Sie wollte, ja,
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