Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Aurelia fühlte sich nicht glücklich, überhaupt nicht. Natürlich wusste sie, dass sie mehr hatte als viele andere Kinder; ständig erinnerte Vater sie daran: Elektrizität, ein Auto, ein richtiges Badezimmer mit fließend warmem Wasser, anständiges Essen, ordentliche Kleider … Manchmal betete er diese Liste herunter und funkelte sie dabei so böse an, als sei sie das undankbarste Kind auf der ganzen Welt. Oft jedoch dachte Aurelia, dass das Wichtigste – das, was fehlte – bestimmt besser war als all diese Dinge.
Verschwendete Jahre. Jahre, in denen sie von ihrer geliebten Großmutter und sogar von Mary ferngehalten wurde – deine Mutter hat Kopfschmerzen, du würdest zu viel Lärm machen, sie muss sich ausruhen –, dabei hätte Aurelia nichts lieber getan, als die fieberheiße Stirn ihrer Mutter zu kühlen oder still neben ihr zu sitzen und ihre Hand zu halten. Später, als sie erwachsen war, wurden diese Dinge von ihr erwartet. Sie musste ihre Mutter pflegen, wenn Hugh Besseres zu tun hatte – wenn er mit seinen Freunden Whisky trank und über Politik diskutierte, im Club aß und Schach spielte oder mit der hübschen Witwe von nebenan flirtete.
Kein Kuss, keine Umarmung, kein Lächeln, keine Zeit für sie … Ja, er hatte sie gehasst. Vielleicht war sein Hass groß genug gewesen.
Aurelia schauderte trotz der Wärme der ligurischen Sonne, die auf den Sonnenschirm herniederbrannte, den sie auf dem Kiesstrand aufgestellt hatte. Heute war sie zum Malen nach Riomaggiore gekommen, das noch hinter La Spezia lag. Es gehörte zu den berühmten Dörfern der Cinque Terre, deren Geschichte von Isolation und Entbehrung sie beinahe ebenso faszinierte wie die atemberaubende Schönheit der Landschaft. Wie viel Arbeit und Mühe hatten die Kleinbauern aufwenden müssen, um diese steilen und tückischen Felsen in fruchtbare Terrassen für die Weingärten zu verwandeln, in denen die Trauben für den berühmten Sciacchetrà-Wein reiften?
Direkt über der zerklüfteten Küstenlinie waren die in leuchtenden Farben gestrichenen, mit Stuck verzierten Häuser verschachtelt neben- und übereinander in die Felsen gebaut, wo sie als buntes Häufchen thronten, als warteten sie nur auf ein Signal, um ins Meer abzutauchen. Aurelia freute sich schon darauf, die Farben für diese Häuser zu mischen, die sich wie Blüten an dem felsigen Hang entfalteten – dunkles Gelbbraun, helles Bernstein, die verschiedenen Abstufungen von Ocker, Goldgelb und Safran. Die Fensterläden waren geöffnet, vor den mit Blumenkästen geschmückten Fenstern hingen Handtücher und Laken zum Trocknen. Unterhalb lagen Fischerboote auf dem Strand oder an dem schmalen Anlegesteg vertäut, Farbkleckse in Blau, Orange und Gelb. In der Ferne waren die gezackten Klippen zu sehen, terrassierte Hügel, die in üppigem Grün prangten und deren Bäume vom starken Wind verformt waren. Dort befanden sich auch die Steinstufen der berühmten Via d’Amore, eines Weges für Liebespaare, der an der felsigen Küste entlang bis Manorola führte. Darüber ein strahlend blauer Himmel – Italien wie aus dem Bilderbuch. Das Umrunden dieser Landspitze glich einer Reise in die Vergangenheit.
Aurelias Gedanken wanderten ebenfalls zurück. War sie im Weg gewesen? Hatte sie einen Keil zwischen Hugh und die Frau getrieben, die er liebte? Vielleicht hatte sie zu viel Aufmerksamkeit verlangt? Zu viel von ihrer Mutter gefordert? Oder hatte Hugh zu viel von ihrer Mutter gewollt?
Sie hat ihn doch bestimmt geliebt.
Aurelia runzelte die Stirn und skizzierte einen Entwurf auf die Leinwand. Lappen und Pinsel verströmten den intensiven Geruch nach Terpentin und Leinöl, der sich mit dem der Seeluft mischte. Sie begann mit dem Meer, arbeitete nass auf nass mit schnellen, kühnen Strichen und schuf die grobe Struktur des Bildes. Ein Teil von ihr war völlig auf das Gemälde konzentriert, der andere erlaubte ihren Gedanken, in die Vergangenheit zurückzukehren, als könnten die Kindheitserinnerungen Einfluss auf ihre Arbeit nehmen. Sie fragte nicht nach dem Grund. Manche Dinge, so hatte sie gelernt, musste man eben einfach akzeptieren.
Während ihr Pinsel über die Leinwand glitt, als führe er ein Eigenleben, versuchte sie sich an Liebesbeweise von Marys Seite zu erinnern. Mary hatte ihn geheiratet, das war das Entscheidende. Sie hatte ein Kind mit ihm, wenn auch nur eins – wie sehr hätte sich Aurelia über ein Geschwisterchen gefreut! Mary hatte sich meistens seinen Forderungen gebeugt,
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