Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
fühlst«, wiederholte er. »Du hast es mir letzte Nacht immer wieder gesagt.«
Jetzt fühle ich mich nicht mehr schuldig, dachte sie erleichtert. Aber sie war tief getroffen. War er tatsächlich der Meinung, sie habe die ganze Nacht über nur von sich selbst geredet? Und hatte sie ihn damit tatsächlich gelangweilt? Wollte er ihr das damit bedeuten?
»Ich sehe mich als freie Frau«, flüsterte sie. »Ich dachte, ich wäre noch mit einem anderen Mann verbunden. Aber das stimmt nicht. Es stimmt schon seit Jahren nicht mehr.«
»Was sagst du?« Enrico trank den letzten Schluck. Aurelia spürte, dass sie über diese Dinge nicht reden sollten, solange er trank. Es war einer vernünftigen Unterhaltung nicht zuträglich und weckte in Enrico Gefühle, die momentan eher kalten Zorn als eine zärtliche Liebesnacht verhießen.
»Ich bin ab sofort nicht mehr verheiratet«, sagte sie. Klare Worte … Er konnte nicht so tun, als würde er die nicht verstehen.
Unvermittelt stand Enrico auf. Sie roch den zarten Duft seines Rasierwassers, der an frisch gesägtes Holz erinnerte. Trotz seines zerfurchten Gesichts, das von Sonne und Wind wie gegerbt wirkte, war er doch nach wie vor ein gut aussehender Mann. Wenn er lächelte, sah er hinreißend aus. Aber er lächelte nicht.
»Was würde sich dadurch für uns möglicherweise verändern?«, fragte er ungerührt.
Aurelia schluckte. Ihre Kehle wurde eng. Sie legte die Hand an den Hals. Es wurde allmählich kühl hier draußen. Sie hätten sich besser ins Haus setzen sollen. Das Gespräch hätte nicht so verlaufen dürfen. Hätte sie doch nur den Mund gehalten! Warum war sie nicht ihrem Grundsatz treu geblieben, die Dinge zu lassen, wie sie waren? »Ich dachte …«
»Möchtest du wissen …« Wieder ließ er sie nicht ausreden. Das entsprach Enrico gar nicht; normalerweise war er ein äußerst zurückhaltender Mensch. »… was ich denke?«
»Natürlich.« Sie wartete. Es wurde immer dunkler. Sie wollte vorschlagen, hineinzugehen, doch es schien nicht der richtige Augenblick zu sein. Enrico wirkte sehr angespannt. Sie spürte es geradezu körperlich, und das machte ihr Angst.
»Mir scheint, du vertraust mir nicht«, sagte er.
»Na ja …«
Er unterbrach sie, indem er die Hand hob. »Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte er leise.
Stimmt. Sie nickte. »Sprich weiter!«
»Tatsache ist, du vertraust mir nicht – das hast du mir ziemlich eindeutig zu verstehen gegeben.«
Von Vertrauen zu reden ist völlig in Ordnung, dachte Aurelia und straffte die Schultern. Doch hatte er ihr jemals ausreichend vertraut, um ihr die Wahrheit zu erzählen? Und überhaupt – wer sagte denn jemals die ganze Wahrheit? Hatte sie Cari etwa die ganze Wahrheit gesagt?
»Und da du mir nicht mehr vertraust« – sein Mund war jetzt nur mehr ein Strich. Sie versuchte, seine Augen in dem Zwielicht zu sehen –, »fällt es mir schwer, mir eine gemeinsame Zukunft vorzustellen.«
Aurelia sah ihn entgeistert an. Wovon redete er, um Gottes willen? Keine Zukunft? Himmel noch mal …
»Vertrauen, und dem wirst du sicherlich zustimmen, sollte die Basis für jede Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau sein.« Er schürzte die Lippen. »Wenngleich ich es genossen habe, dass unsere Beziehung nie konventionell war.«
Seit wann, fragte Aurelia sich. Seit wann war er so verletzt?
»Es spielt doch keine Rolle«, entgegnete sie. Sie fürchtete sich jetzt umso mehr. »Was immer sich in der Vergangenheit zugetragen hat – es spielt jetzt keine Rolle mehr. Das können wir vergessen und hinter uns lassen.«
»Doch, es spielt eine Rolle!« Enrico schob seinen Stuhl an den Tisch. Die Stuhlbeine kratzten über die Terrasse. »Sogar eine große Rolle!«
Wie in Trance erhob sich Aurelia und stellte das schmutzige Geschirr zusammen. Warum tat sie das? Warum brach sie nicht in Tränen aus? Verdrängung, dachte sie bei sich. Denk nicht dran, dann wird es auch nicht Realität! Sie würde sich nicht gehen lassen. Sie würde ihre Würde wahren, koste es, was es wolle. »Was schlägst du vor, Enrico?«, fragte sie schließlich, sich seinem Ton angleichend, während sie das Geschirr auf das Tablett stapelte.
Er musterte sie eingehend. Sie spürte seinen Blick. »Als Erstes, getrennte Zimmer.«
Aurelia stockte der Atem. Sie nahm das Tablett. Es half ihr, die Fassung zu bewahren.
Enrico ging auf das Haus zu. Die weißgetünchte Villa stach aus der zunehmenden Dunkelheit heraus. Er trat durch die Verandatüren ins Haus, auf
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