Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Dieses kleine Miststück.«
Aurelia drehte sich auf den Rücken. Im Wasser fiel ihr diese Bewegung viel leichter als nachts im Bett, wenn sich die von Arthritis geplagten Gelenke beschwerten. Ihr Blick verfolgte eine Wolke, die am Mond vorbeizog. Dieser Anblick übte eine fast hypnotische Wirkung auf Aurelia aus. Auch wenn sie zu den unzähligen Sternen am tintenblauen Himmel emporsah, hatte sie das Gefühl, sie würden wie in Trance zu tanzen beginnen.
Gail weinte. Ohne Richard zu beachten, legte Aurelia den Arm um das Mädchen, obwohl sie sich dazu überwinden musste. Sie bemühte sich, ihre Haut nicht zu berühren, die sich unangenehm feucht und kalt anfühlte, wie die eines Fisches.
Sie führte Gail ins Wohnzimmer. »Hat er dir etwas angetan?«
»Nein.« Schon trockneten die Tränen, und der Blick wurde wieder trotzig und überheblich.
»Alles in Ordnung?« Aurelia gelang es nicht, ihrer Stimme einen freundlichen Klang zu verleihen. Gail hatte sich ihm geradezu angeboten – seit Wochen schon, sogar in Aurelias Gegenwart. Sie flirtete, streckte die Brust heraus, ließ den Rock höher rutschen. Provokativ. Eine Zeitbombe. Aber um Gottes willen, sie war erst fünfzehn.
»Klar.«
»Sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher.« Und schon stolzierte sie davon.
Aurelia drehte sich wieder auf den Bauch und schwamm weiter hinaus. Allerdings nicht zu weit. Sie hatte ihre Lektion gelernt. Mit fünfundsiebzig war es Zeit, sich zu mäßigen. Das hieß nicht, dass sie resignierte. Sie war nur realistisch.
»Erzähl es bloß nicht Tasmin!«, hatte Aurelia Gail eingeschärft.
Hatte sie »nie« hinzugefügt? Offensichtlich hatte Gail es ihr nun doch erzählt, und Aurelia würde nie mehr in Erfahrung bringen, welche Wirkung dieses Wissen auf ihre inzwischen siebenundvierzigjährige Tochter gehabt hatte.
Bestimmt hatte es ihr einen Schock versetzt.
Aurelia prüfte, wie tief das Wasser war. Es reichte ihr bis zu den Schultern. Perfekt. Tief genug, um sich genüsslich hineinsinken zu lassen. Sie wandte sich um und schwamm mit kräftigen Zügen Richtung Tellaro. Die Fenster der Häuser am Ufer waren erleuchtet, ebenso die Laterne der Barockkirche, ein Signalfeuer, das vor den glatten, tückischen Felsen warnte.
War der Schock so groß gewesen, dass Tasmin nicht mehr leben wollte? Aurelia sog beim Schwimmen den Geruch des salzigen Wassers ein. Nachts roch das Meer anders, erdiger, nach Tang und Schalentieren.
Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Anscheinend hatte Tasmin diesem Edward gegenüber etwas von Veränderungen erwähnt … Wie Cari, Gott segne sie, gesagt hatte – kaum die Worte eines Menschen, den Selbstmordgedanken umtreiben.
Welche Veränderungen? Sie schwamm zurück. Nun, sie würde es niemals erfahren, hoffte aber, Cari würde verstehen, warum sie hatte verhindern wollen, dass jemand es Tasmin hinterbrachte.
Müde erreichte Aurelia den Strand, fand Halt im grobkörnigen Sand und watete mühsam weiter, die Haut runzlig vom Wasser. Wie eine verschrumpelte Pflaume, dachte sie.
Für Aurelia war der Vorfall mit Gail der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Der endgültige Verrat. Jetzt hatte sie beim besten Willen nicht mehr bei Richard bleiben können.
Sie wickelte sich in ihr Handtuch und schlüpfte mit noch feuchten Füßen in die Sandalen. Umziehen würde sie sich im Haus.
Italien war ihr derart verlockend erschienen. Ruth hatte schon seit langem versucht, sie zum Fortgehen zu bewegen. Sie arbeitete für eine Reisegesellschaft und sollte eine neue Niederlassung in der Toskana übernehmen. Und Aurelia sollte mitkommen. Italien … Gramma Hesters andere Welt.
Aurelia war bis zu Tasmins achtzehntem Geburtstag geblieben. Keinen Tag länger. Wie hätte sie all das ertragen sollen?
Cari öffnete das Tor. Marco stand neben seinem roten Maserati, eine Hand auf die Motorhaube gestützt. Er trug ausgeblichene Bluejeans und ein ärmelloses weißes T-Shirt, die Lederjacke hing lässig über der braungebrannten Schulter. Mmm. Sein schwarzes Haar war zerzaust, kleine Locken ringelten sich im Nacken … Er sah gefährlich aus, einfach umwerfend.
Angeber!, dachte Cari.
Nachdem sie sich zur Begrüßung auf die Wangen geküsst hatten, öffnete er schwungvoll die Wagentür.
»Wie schön, dich zu sehen!« Er verschlang sie geradezu mit Blicken, sodass sie vorsichtshalber rasch auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
»Ebenso.« War das schwarze Kleid mit dem gerüschten Rock und dem tiefen
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