Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
sie hin? Verflixt. Sie spähte umher. Die Frau war verschwunden. Hatte sich in Luft aufgelöst. Oder zumindest …
In der Ferne fiel das Friedhofsportal hinter einer kleinen davoneilenden Gestalt ins Schloss.
Demnach hatte die Frau ihre Entscheidung getroffen. Wahrscheinlich spielte es keine Rolle. Aber Cari wollte es wissen. Sie spürte, dass es etwas Wichtiges war. Wer war diese Frau? Und was hatte sie ihr mitzuteilen?
Ein weiterer herrlicher Frühlingstag, am Morgen und am Abend kühl, aber warm um die Mittagszeit, trotz der Meeresbrise, die die Luft mit Salz tränkte und die zarten weißen Blütenblätter der Mandelbäume im Park rascheln ließ. Daher hatte Aurelia – wie alle anderen im Dorf – ihre Blumentöpfe auf den Balkon und die Terrasse gestellt, die Fensterläden früher als sonst geöffnet und die Gartenmöbel unter der Pergola abgewischt.
Sie war auf dem Rückweg von einem frühmorgendlichen Bad im Meer und ging auf das Labyrinth zu, um für eine Weile allein zu sein. Sie musste nachdenken. Sie wollte sich davon überzeugen, dass es immer noch da war, dieses … ja, was immer es auch sein mochte. Allerdings musste sie rechtzeitig wieder in La Sirena sein, da Elena sie zu einer Fahrt nach Tellaro abholen würde. Elena hatte ganz geheimnisvoll getan. Ich muss dir etwas erzählen, meine Liebe …
Enrico war immer noch unruhig. Gleich nach dem Frühstück hatte er sich auf den Weg nach La Spezia gemacht und dabei etwas von polizia gemurmelt. Der Einbruch saß ihm noch in den Knochen. Sie seufzte. Wie nannte man es, wenn jemand zwar ins Haus eindrang, aber nichts stahl oder zerstörte? Es war weder ein Gelegenheitsdiebstahl noch ein Akt von sinnlosem Vandalismus gewesen. Jemand hatte etwas gesucht …
Die ganzen Spekulationen sind zwecklos, dachte Aurelia, als sie auf dem sandigen Pfad zwischen den Lorbeerbäumen hindurchging, die den zum Meer hin gelegenen Eingang des Labyrinths markierten. Auch die Lorbeerbäume waren Catarinas Idee gewesen, und Aurelia konnte dies gut nachvollziehen. Zwei Torwächtern gleich, hielten sie schweigend Ausschau nach Eindringlingen und sorgten für eine gewisse Sicherheit. Das war Catarina bestimmt wichtig gewesen.
Aurelia schob die Henkel der Stofftasche mit Handtuch, Badeanzug, Skizzenblock und Stiften höher auf die Schulter. Vielleicht würde sie eine weitere Skizze machen, solange sie hier war. Im Labyrinth fühlte sie sich wohl, die Zikaden zirpten, und der Pfad war weich und warm in der Vormittagssonne. O ja, dieses Labyrinth war ihr sehr vertraut. Aurelia hatte sich hier noch nie verlaufen. Sie kannte jeden Pfad wie ihre Westentasche. Nie fühlte sie sich gefangen oder einsam.
Catarina hatte die Pflanzen gezeichnet, die sie für das Labyrinth vorgesehen hatte. Und Aurelia hatte das Bild nach besten Kräften gedeutet. Oleander wurde selten für die Gestaltung von Gartenlabyrinthen verwendet; die englische Entsprechung wäre wohl ein wilder Rhododendron. Aber er war eine robuste Pflanze, die mit dem sandigen Untergrund, der Dürre und der sengenden Hitze fertig wurde und dem starken Wind trotzte, der diesen Küstenstrich ab und an heimsuchte. Er wuchs nicht besonders schnell, besaß aber bereits als junge Pflanze die prachtvollen blassroten Blüten, deren Duft an Mandeln erinnerte. Für Aurelia symbolisierte der Oleander Italien, da er so viele Straßen säumte.
Der Sternjasmin gedieh in großen Mengen auf den ligurischen Hügeln. Aurelia erinnerte sich noch an den Tag – kurz nachdem sie sich entschlossen hatte, das Labyrinth anzulegen –, an dem Enrico sie zum ersten Mal nach Portofino mitgenommen hatte. Sie war bezaubert gewesen von dem winzigen Hafen – sicher hatte er gewusst, dass es ihr gefallen würde –, der umrahmt wurde von Läden und Boutiquen, die sich in den alten Säulengängen befanden, sowie den hohen, schmalen Häusern in Ocker, Rostrot und Safrangelb. Dahinter erhoben sich Hügel mit Pinien und Zypressen. Sie hatten die traditionelle passegiata gemacht, einen Spaziergang am castello vorbei zum faro , dem Leuchtturm, und hatten auf das ihnen zu Füßen liegende Dorf geblickt, wo die Kajütboote und Yachten vertäut lagen, während deren Besitzer die gepflasterten Straßen erkundeten und den Galerien, Töpfereien und den Gucci- und Armani-Läden einen Besuch abstatteten. Als sie auf den Hafen und das herrlich klare türkisblaue Wasser des Golfo di Genova hinabsahen, hatte Aurelia zum ersten Mal jenen honigsüßen Duft wahrgenommen, der
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