Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
dreirädrigen Lieferwagens, den die meisten Dorfbewohner benutzten, um mit ihren Arbeitsgeräten zu den ortos , den Schrebergärten, oder zu den Rebstöcken und Olivenhainen auf den Hügeln zu fahren. Nein. Sie spürte eine Art Präsenz. Etwas Hoffnungsvolles. Etwas Positives. Sie hatte den Atem angehalten und auf ein Zeichen gewartet.
Und nun war es wieder wie damals. Angestrengt lauschte sie in die Stille. Ja, es war da. Nichts Bösartiges wie in der Nacht des Einbruchs, sondern das Gefühl von einst. Sie täuschte sich nicht. Bestimmt nicht. Aurelia empfand keine Angst, sondern den Wunsch, es auf einem Gemälde festzuhalten. Sie hatte bereits mehrere Vorskizzen gemacht, aber etwas stimmte nicht, etwas fehlte. Und es ließ sich einfach nicht auf die Leinwand bannen.
Sie war heute hergekommen, um sich eine Art Auszeit zu gönnen. Vielleicht würde es ihr ja gelingen, wenn sie nichts erzwingen wollte, die Inspiration fließen ließ.
Im Zentrum des Labyrinths, geborgen zwischen Oleander- und Jasminbüschen, spürte sie, wie sich Frieden in ihrem Inneren ausbreitete. Als würde ihr jemand eine Botschaft übermitteln, eine ganz besondere Botschaft …
K
apitel 6
»Aurelia! Aurelia!«
Aurelia war sofort wach. Nein, sie hatte nicht geschlafen. (Um Himmels willen! Es war schließlich mitten am Tag.) Vielleicht gerade mal eben ein bisschen gedöst. Früher hatte sie den ganzen Tag gemalt und sich höchstens zwischendurch einen Kaffee und ein Sandwich gegönnt. Sie dachte an die Zeit damals in Brighton, als sie den Passanten einen offenbar amüsanten Anblick bot: hochkonzentriert, geradezu andächtig hatte sie vor der Staffelei gestanden und versucht, die Stimmung einzufangen. Der Palace Pier mit all dem Menschengetümmel, dem Karussell, den Ständen mit Zuckerwatte sowie der rot-weiß bemalten Achterbahn, deren Spitze wie ein Leuchtturm aussah, und das dahinterliegende, endlos scheinende Meer, das je nach Lichtverhältnis grau oder grün wirkte. Nur gelegentlich schillerte es in einem überraschend mediterranen, unbeschreiblich hell leuchtenden Blau, als würden jeden Augenblick Delphine zwischen den Wellen auftauchen. Die Stimmung mit Aquarellfarben einzufangen war ihr noch nie gelungen. Immer gab es etwas, was sich ihr entzog.
Aurelia lächelte wehmütig – sogar manchmal heute noch.
Neben ihr, vor dem blassgrünen Zaun der Promenade, schlief damals immer das Baby in dem großen Kinderwagen der Marke »Silver Cross«, während Aurelia gedankenverloren unermüdlich malte. Welche Mutter …
»Aurelia!«
»Ja, ja, ich bin hier«, antwortete sie.
Seit einiger Zeit malte sie an den Vormittagen, unterbrach ihre Arbeit gegen Mittag, nahm in La Sirena ein spätes Mittagessen im Schatten zu sich und setzte sich anschließend unter die Pergola. Dort döste sie zuweilen den halben Nachmittag, bis es Zeit zum Schwimmen oder zu einem Spaziergang war. Was hatte sie zu diesem Gewohnheitsmenschen werden lassen? Und wie wäre Großmutter Hester damit umgegangen? Gereizt schnalzte Aurelia mit der Zunge. Das Alter war ein wahrer Tyrann – er schloss einem gerade dann die Lider, wenn man unbedingt wach bleiben wollte, und ließ sie in den einsamen frühen Morgenstunden aufklappen, wenn man am liebsten an nichts denken wollte.
»Aurelia, wo bist du?« Die Stimme klang drängend und gebieterisch.
»Auf der Terrasse.«
Elena hingegen ließ sich vom Alter nicht sonderlich einschüchtern. Leichtfüßig erschien sie unter dem Art-déco-Türstock der Verandatüren. »Ach, hier bist du! Ich habe dich überall gesucht. Tut mir leid, dass ich so spät komme.«
Aurelia zuckte die Schultern. Sie war lange genug in Italien, um zu wissen, dass eine Verspätung unter einer Stunde hier völlig normal war und so gut wie nie als »Unpünktlichkeit« galt.
Elena setzte sich kerzengerade auf die Kante des schmiedeeisernen Stuhls. »Bist du so weit, meine Liebe?«
Achtundsiebzig und trotzdem wie ein junges Mädchen, dachte Aurelia. »Certo.« Als sie aufstand und aus der schattigen Pergola trat, wurde ihr ein wenig schwindlig. Sie griff nach ihrer Handtasche und ihrem Strohhut, da die Sonne unbarmherzig auf Kopf und Nacken brannte.
»Dann wollen wir mal«, sagte Elena fröhlich, erhob sich und hakte sich bei Aurelia unter.
» Ciao , Rosa«, rief Aurelia, als sie das Haus passierten, vorbei an dem ausladenden Feigenbaum, dessen Äste sowohl die Hauswand als auch die Steinkübel berührten, die Aurelia mit Hängegeranien, Lavendel und
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