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Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)

Titel: Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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wer ihr Vater war. Noch dazu hatte sie ihr nicht die Wahrheit über den Rest der Familie erzählt und sie dadurch ihrer Wurzeln beraubt und völlig durcheinandergebracht – so durcheinander wie sich selbst, verdammt noch mal. Woher hatte ihre Mutter das Recht genommen, Cari die Lebenswahrheit vorzuenthalten, nur weil sie selbst mit der Realität – wie immer sie sich darstellte – nicht hatte umgehen können?
    Lieber Gott, wie oft hatte sie ihr die Wahrheit zu entlocken versucht! Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie Tasmin erklärt: »Ich komme schon noch dahinter. Du wirst mich nicht davon abhalten.«
    »Du kannst es gar nicht herausfinden.« Tasmin hatte sich derart kalt und entschlossen abgewandt, dass Cari zum ersten Mal in ihrem Leben nur zu gern auf ihre Mutter eingeschlagen hätte. »Weil niemand die Wahrheit kennt. Sein Name erscheint nicht auf der Geburtsurkunde. Ich allein kenne ihn.«
    Unbegreiflich. Wie hatte sie nur so kalt sein können? Ohne Rücksicht auf die Menschen um sie herum – Menschen, vor allem eine Person, die sie doch eigentlich hätte lieben sollen. Es war, als habe sie damit sagen wollen: So bin ich eben. Entweder ihr nehmt mich, wie ich bin, oder ihr schert euch zum Teufel. Sie hatte Cari stets das Gefühl vermittelt, unfähig zu sein.
    Nein, Tasmin hatte kein Recht zu sterben. Es war alles so verdammt sinnlos. Und total rücksichtslos von ihr.
    Cari entzog Dan den Arm. Sie wollte nicht von ihm gestreichelt werden. Sie wollte keinen Trost, wollte sich ereifern, rasen, weinen. Und zwar allein. Und niemand sollte sie berühren.
    »Ich wäre glücklicher«, erklärte sie stockend (glücklicher? Meinte sie das etwa ernst?), »wenn ich mich alldem allein aussetzen könnte.« Sie wollte auch nicht, dass er die Sachen ihrer Mutter anfasste. Er sollte keinen Einblick in das Leben ihrer Mutter nehmen. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. Bedeutete das vielleicht, dass sie ihn nicht in ihrem eigenen Leben wollte?
    »Wirklich?« Dans Blick war so fragend, dass sie wegsah. Das war nicht der richtige Augenblick für Geständnisse.
    »Wenn ich dich brauche«, sagte sie, »rufe ich dich an.«
    Er zögerte. Verhalten lächelte sie ihm zu, der letzte Versuch. »Ich komme schon zurecht. Ehrlich.«
    Widerstrebend erhob er sich. »In Ordnung. Ruf mich an, ja?«
    »Ja.«
    Er beugte sich hinunter und küsste sie auf den Mund. Cari schloss die Augen. Der Kuss schmeckte nach Sägemehl. Vielleicht lag das Sägemehl auch einfach hier in der Luft, sozusagen als Ersatz für das Zitronengrasparfum ihrer Mutter, einem Vermächtnis dieser mit allem möglichen Kram gefüllten Kartons, die sie in Tasmins Arbeitszimmer gefunden und in ihren kalten, minimalistisch blau und chromfarben eingerichteten Wohnraum geschleppt hatten. Die Schneekönigin, dachte Cari.
    Als sie endlich allein war, schlug sie das dicke Notizbuch auf. Auf der ersten Seite stand Juni 1974 . Du lieber Himmel! Sie hielt den Atem an. Es war ein Tagebuch.
    Ich kann kaum glauben, dass sie es wirklich getan hat. Aufgestanden und verschwunden. Einfach so. Sie und diese blöde Ruth. Wer würde schon mit einer Horde dämlicher Ausländer zusammenleben wollen? WARUM? WARUM? WARUM?
    Cari starrte auf die Seite. Die letzten drei Worte waren in großen, fetten Buchstaben geschrieben. Einer größer und dunkler als der vorherige. Stammten diese Zeilen tatsächlich von ihrer Mutter? Worte, die eine heftige Gefühlsregung offenbarten. Nein, das war nicht die Stimme ihrer Mutter, oder zumindest kannte sie diese Stimme nicht. Dafür erkannte sie deren steile Handschrift wieder – sie war nicht ganz so steil wie vor ihrem Tod, aber doch rasch als ihre erkennbar. Tasmin war damals vermutlich … Hastig rechnete sie. Achtzehn.
    Eilig blätterte sie die Seite um. Es folgte ein Gedicht. Ein Gedicht? Tasmin hatte Gedichte geschrieben? Cari beschäftigte sich eingehend mit jedem Wort, kam jedoch nicht hinter den Sinn. Es handelte von Tränen und Flüssen und unerträglicher Traurigkeit. Ängste eines Teenagers. Cari seufzte. Die Traurigkeit ihrer Mutter wurde so plastisch, dass sie zögerte weiterzulesen. Ihre Worte waren unheimlich … entblößend. Hatte sie gewollt, dass es jemand las?
    Andererseits … Cari schlug das Heft zu und drückte es an die Brust. Das Tagebuch würde die Wahrheit enthüllen, ihr etwas über ihre Familie mitteilen; womöglich sogar über ihren Vater. Jetzt konnte die Wahrheit Tasmin nicht mehr verletzen.
    Die Abenddämmerung

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