Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
erneut zu dem jungen Mann umwandte, hob er den Kopf und starrte sie an. Selbst aus dieser Distanz spürte sie die Intensität seines Blicks und bemerkte die Veränderung in seinem Gesicht. Eine Veränderung … vielleicht ein Zeichen von Angst? Sie war überzeugt, den Ausdruck richtig interpretiert zu haben. Doch weshalb sollte sich ein gut aussehender junger Italiener vor einer alten Frau fürchten? Sie runzelte die Stirn, beobachtete ihn, als er etwas zu seinem Begleiter sagte, aufstand und hastig in Richtung Meer davoneilte.
»Er ist fort«, sagte sie zu Elena.
Elena schien sich mittlerweile erholt zu haben. »Gut. Wir sollten auch von hier verschwinden.«
Sie stiegen erneut den Hügel hinauf. Obgleich es schon spät war, strahlte die Sonne noch mit wärmender Kraft, und der Duft der Zitrus- und Mandelbäume erfüllte die Luft.
»Du hast meine Unterstützung«, sagte Aurelia. »Falls Enrico einverstanden ist, helfe ich dir bei den Vorbereitungen.« Wie Schwestern, dachte sie. In Ordnung! Wie Schwestern.
K
apitel 7
»Was ist das?« Dan hielt ein Notizbuch mit Spiralbindung hoch, auf dessen Vorderseite ein Engel abgebildet war. Er schlug es auf.
»Gib es mir!« Cari riss es ihm aus der Hand.
»Ich wollte doch nur …«, versuchte Dan sich tief getroffen zu verteidigen.
»Ich weiß«, seufzte Cari. Sie legte das Heft beiseite und trat an seine Seite. Er kniete auf dem Boden, neben sich einen weiteren Karton mit Sachen von ihrer Mutter. Seltsam. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Tasmin eine Sammlerin gewesen war, sondern sie immer für jemanden gehalten, der nach dem Motto »Erledigt und weg damit« lebte. Vermutlich ein weiterer Beweis dafür, wie wenig sie ihre Mutter gekannt hatte.
»Entschuldige.« Besänftigend strich sie ihm über das blonde Haar. Sie fühlte sich von der vor ihr liegenden Aufgabe überfordert. Kein Wunder, dass sie gereizt war. Die Habseligkeiten ihrer Mutter auseinanderzudividieren, empfand sie als eine der unangenehmsten Pflichten ihres Lebens. Und obwohl sie Dans Hilfe angenommen hatte, weil sie glaubte, dieses Problem allein nicht bewältigen zu können, ertrug sie seine Anwesenheit plötzlich nicht mehr.
»Ist schon in Ordnung.« Er war immer so verständnisvoll. Was war bloß mit ihr los? Weshalb gelang es ihr nicht, ihm die Anerkennung zu geben, die ihm gebührte? Warum nicht?
»Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich die Sachen allein durchgehe.«
Seine dunklen Augen – die ebenso liebevoll waren wie Dan selbst – ruhten auf ihr, als er sagte: »Ich glaube nicht, dass du das schaffst, Babe.«
Sie versuchte sich nicht über diese Bemerkung zu ärgern. Es ging ihm doch um ihre Person. Er wollte sie beschützen, für sie da sein, auch wenn es zuweilen so aussah, als kontrolliere er sie … Ach, das war ein alberner Gedanke! Dan würde doch alles für sie tun. Sie brauchte ihn nur zu bitten.
»Ja … natürlich ist es schmerzhaft.« Wie sollte sie es erklären? »Ich muss mich der Sache stellen, um loslassen zu können.« Um ihre Trauer zu bewältigen. Augenblicklich kämpfte sie nicht nur gegen die Trauer an, sondern auch gegen ihre übermächtige Verbitterung und Wut. Weshalb hatte ihre Mutter dieses Zeug geschluckt? Es war so verdammt absurd. Ecstasy war eine Droge, die sich Teenager auf einem Rave einwarfen, aber doch keine siebenundvierzigjährige Frau auf einer Party für Erwachsene. Was zum Teufel hatte sie bloß dazu veranlasst? Ecstasy war wirklich gefährlich. Und darüber hinaus einfach kindisch.
Da Cari wusste, dass Tasmin derartige Gratwanderungen liebte, war sie von jeher in Sorge um sie gewesen. Selbst als Kind hatte sie sich verantwortlich gefühlt; sie hatte ihre Mutter beim Überqueren der Straße an der Hand gehalten, stets einen Blick auf die Autos gerichtet, die aus Einfahrten herausgeschossen kamen; und sie hatte überprüft, ob das Kaminfeuer tatsächlich aus war und wo ihre Mutter die angezündete Zigarette abgelegt hatte. Mit Tasmin an der Seite durfte man nicht einen Augenblick unaufmerksam sein. Angst war für sie ein Fremdwort. Sie war leichtsinnig. Als wäre ihr das eigene Leben einerlei gewesen. Guter Gott … Sie kniff die Lider zusammen. Schluss mit den Tränen!
»Cari.«
Sie öffnete die Augen. Dan streichelte ihren Arm, und sie spürte, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Zorn. Ja. Ihre Mutter hatte nicht das Recht, mit siebenundvierzig zu sterben. Und noch weniger hatte sie das Recht zu sterben, ohne Cari vorher zu verraten,
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