Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
setzte ein. Aurelia malte. Elena war gleich nach ihrer Rückkehr aus Tellaro nach Hause gegangen. Außerdem hatte Enrico angerufen, um Aurelia zu sagen, dass er über Nacht in Genua bleibe. Sie brauchte sich also nach niemandem zu richten …
Nach einem Imbiss mit getoasteten panini und einem Glas Rotwein ging sie hinunter zum Labyrinth. Dort atmete sie den Geist eines in Schleier gehüllten Geheimnisses sowie den Duft nach Jasmin ein, während sie überlegte, wie sie die rätselhafte Aura des Irrgartens einfangen könnte. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie musste das richtige Medium finden. Während sie vorläufige Skizzen anfertigte, hatte sie noch geplant, Aquarellfarben zu nehmen. Viele ihrer Arbeiten basierten auf Aquarellfarben. Mit diesem Material verstand sie umzugehen. Doch diesmal benötigte sie etwas anderes. Ölfarben. Allein mit Ölfarben würde sie den vielgestaltigen Untergrund erschaffen können, um die entsprechende Atmosphäre – das Rätselhafte, Untergründige – zu erzeugen und die Tiefe herauszuarbeiten.
Kaum hatte sie den Entschluss gefasst, wollte sie ihn in die Tat umsetzen. Aufgewühlt und energiegeladen ging sie nach La Sirena zurück, holte Staffelei, Pinsel, Palette und Farben und lief den Sandweg entlang bis in das Herz des Labyrinths.
Dort begann sie, so schnell und begeistert zu malen, dass sie die Farben zuweilen auf der Leinwand anstatt auf der Palette zu intensivem Blau und Violett sowie Grün- und Grautönen mischte in dem Versuch, das aufzudecken, von dem sie wusste, dass es vorhanden war. In Italien dominierten dunkles Ocker und Safrantöne, hier jedoch, in dem ligurischen Labyrinth, herrschten die Schatten der einbrechenden Dunkelheit und erinnerten sie an das vor vielen Jahren gemalte Bild der Triskele und des undurchdringlichen Waldes aus der Fabelwelt. Das hier war zwar kein Wald, aber die dichte Hecke löste in ihr unterschwellig das unerklärliche Gefühl aus, nach dem sie bereits damals beim Malen gesucht hatte. Die pfeilförmigen, harten Blätter des Oleanders verwandelten sich in der Abenddämmerung zu winzigen grauen Lanzetten; das tief glänzende Grün der Jasminblätter wiegte die Blüten mit den gelben Spitzen, die nun, nach Sonnenuntergang, kraftlos wirkten. Die Oberfläche des Teiches glänzte wie die Haut von Oliven. Ihre Statue, der südländische Matrose, wirkte fahl und nachdenklich. Selbst der Himmel hatte sich verdunkelt und erschien bleischwer, obgleich Aurelia meinte, die aus der glutheißen, sandigen Erde ausströmende Hitze unvermindert zu fühlen. Zudem spürte sie die zahlreichen Schatten. Aurelia arbeitete weiter, fügte hier einen silbrigen Strich, dort eine düstere Nuance hinzu.
Dass Ölfarben so reagieren, hätte sie wissen müssen. Die Töne ließen sich nicht so präzise auftragen. Andererseits boten sie eine gute Grundlage. Man konnte mit ihnen spielen, sie mischen und einarbeiten. Die Künstlerin wurde gefordert, ihre Gemütsbewegung in das Werk zu übertragen … Und genau das tat Aurelia.
Vor fünfundzwanzig Jahren hatte sie das Labyrinth zum ersten Mal gemalt. Damals kauerte sie zwischen den noch jungen Oleander- und Jasminpflanzen, die noch längst nicht so buschig waren und weit weniger Blüten trugen, und betrachtete die knapp über dem Horizont stehende Sonne und die geränderten rosa Wolken. Damals wie heute hatte sie diese Stimmung als Antwort auf jenes sanfte Rascheln zu Papier gebracht, hinter dem sich mehr als nur eine abendliche Brise oder der Gesang der Grillen verbarg, als Antwort auf die Präsenz, die sie intensiv spürte. Ihren Skizzenblock hatte sie behutsam auf die Bank aus Olivenholz neben sich abgelegt.
»Stefano? Enrico?«
Sie erhielt weder eine Antwort, noch verspürte sie Angst. Jemand beobachtete sie, aber dieser Jemand wollte ihr nicht schaden.
Sanft strich die Abendluft über ihr Gesicht, und der schwere Duft des Jasmins mischte sich mit dem Wohlgeruch des sonnendurchwärmten Weges und dem Salz des Meeres; als die untergehende Sonne ein letztes Mal durch die Wolken brach, legte sie ihren Schimmer wie einen Teppich über das Wasser. Im selben Augenblick wusste Aurelia, wer sich in ihrer Nähe aufhielt. Es konnte nur eine ganz bestimmte Person sein. Sie hatte keine Erklärung dafür, war sich aber vollkommen sicher: Catarina – deren Gegenwart sich so schemenhaft wie die zunehmende Dämmerung bemerkbar machte.
»Catarina?«, flüsterte sie. Enrico würde sie für verrückt halten. Vielleicht war sie es ja
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