Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
dem Eingang lediglich ein kleiner Erdhügel aufgefallen, durchsetzt mit braunen und grauen Tonscherben. Möglicherweise ein einfacher Brennofen? Sie öffnete das Holztor zu dem Schober gewaltsam – das Holz splitterte, das Vorhängeschloss war verrostet. Sie hielt den Atem an.
Das war kein gewöhnlicher Heuboden, obwohl er früher möglicherweise als solcher genutzt worden war. Jetzt diente er – oder hatte gedient – als Arbeitsschuppen. Er war angefüllt mit zum Teil abstrakten Skulpturen, hauptsächlich jedoch mit Plastiken von Tieren der Region. Dachse, Füchse, Vögel. Überall standen Tontöpfe, Urnen und glasierte Vasen herum. Zudem waren sämtliche Arbeitsgeräte des Künstlers – oder der Künstlerin – vorhanden. Mit angehaltenem Atem hatte Aurelia die Scheune betreten. In der Ecke neben der Tür lag ein mit Staub und Spinnweben bedeckter Stapel Treibholz. Einige Skulpturen waren aus Holz geschnitzt, andere vermutlich aus dem Gestein der Umgebung. An einer Wand hatte eine alte Töpferscheibe ihren Platz; daneben ein Emailbecken mit Flecken in Grau-, Braun- und Rottönen. Gegenüber eine alte Werkbank aus Holz und eine Unmenge verstaubter Muscheln, Gefäße mit Glasurmasse neben Papier, Entwürfen, Sackleinen, Meißeln, Holzhämmern und Messern. Alles, was man sich nur vorstellen konnte …
Sie nahm einen der Entwürfe zur Hand – eine Skizze, das Profil eines Gesichts. Erstaunt betrachtete sie das Blatt. Sie wusste, dass ihre Großmutter ihr Einkommen mit dem Verkauf von Gemüse und Eiern sowie von handgemachten Töpfen und dekorativen Collagen aufgestockt hatte, die in dem Laden des Bauernhofs zum Verkauf angeboten wurden. Doch das hier war ihr vollkommen neu und fremd … Hier ließ sich die künstlerische Entwicklung ihrer Großmutter bis in alle Einzelheiten verfolgen.
Fasziniert sah Aurelia sich um, bis es ihr plötzlich ins Auge fiel: ein lebensgroßes Brustbild, das etwas abseits stand. Der stolz wirkende Kopf mit zurückgekämmtem Haar und die Schultern eines Mannes – hohe Wangenknochen, durchdringender Blick, leidenschaftlich wirkende Lippen und ein ausgeprägtes Kinn, ein würdevoller, rauer Charakter, der Aurelia kurz innehalten ließ. Sie ging ein paar Schritte, ehe sie sich umwandte. Während sie einen Fuß vor den anderen setzte, drehte sie sich erneut um. Wie der Blick der Mona Lisa im Louvre begleiteten seine Augen sie unverwandt. Einige Schritte weiter sah sie erneut zurück. Er zog sie in seinen Bann. Ein zweites Mal betrachtete sie die Skizze, die sie in der Hand hielt. Dasselbe Modell. Kein Zweifel. Wieder und wieder kehrte sie zu der Skulptur zurück und legte die Hand auf den kühlen, grau-grün marmorierten Stein, in der Hoffnung, das zu spüren, was ihre Großmutter einst gespürt haben mochte. Um wen handelte es sich bei dem Mann? Woher stammte er? Er schien kein Einheimischer zu sein – alles an ihm sprach vielmehr für einen südländischen Seefahrer, der am Strand von Port Isaac an Land gegangen war. Plötzlich erinnerte sie sich an Gespräche mit Gramma Hester … Sie sind mit Trampdampfern aus Genua gekommen. Auf diesen Schiffen herrschte stets Bedarf an Hilfskräften. Jeder konnte anheuern und mitreisen . Sie erinnerte sich an die Sardinen, die nach Genua exportiert wurden, und lächelte. Trampdampfer, die aus Italien kamen.
»Dort lagert so viel Zeug«, erzählte sie Richard bei ihrer Rückkehr. »Du machst dir keine Vorstellung, wie außerordentlich produktiv sie gewesen ist.«
Er leerte sein Whiskyglas in einem Zug. »Schön und gut, aber du kannst die Sachen nicht hierherbringen.«
Ein unangenehmer Tag lag hinter ihr. Nachdem Richard sich den ganzen Abend über den verfluchten Regisseur ausgelassen hatte, war er nicht versessen darauf, sich zu allem Überfluss auch noch etwas über Großmutter Hesters Schätze in der Scheune anzuhören.
»Ja. Ich weiß.« Aurelia hatte sich darüber bereits Gedanken gemacht. Auch wenn sie am liebsten alles behalten würde, fehlte ihnen doch der erforderliche Platz. Sowohl in ihrem kleinen viktorianischen Reihenhaus als auch draußen. Das wäre auch unpassend gewesen. Hesters – ebenso wie Aurelias – Kunst hatte nun einmal ihren Ursprung in der Landschaft, in der sie gelebt hatte, und sollte dort bleiben.
»Ich könnte den Leuten in North Cornwall den Nachlass spenden«, schlug Aurelia vor. »Sie könnten die Werke in einem Park oder woanders aufstellen.«
»Wie bitte?« Plötzlich wirkte er interessiert. »Sie hat so
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