Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Klängen, sah nur die Bilder. So wie es möglicherweise ein Kind macht. Bei der Begegnung mit einer fremden Sprache kann man hinter die Sprache und damit zum Kern der Dinge vorstoßen.
Doch heute war sie nicht bei der Sache. Nervös saß sie im Sessel und spürte Enricos Blick. Wann sollte sie ihn fragen? Während der Pause? Während des Schlussapplauses? Bei einem späten Abendessen? Oder kurz vor dem Schlafengehen – bevor sie einander höflich gute Nacht sagten? Wann war es am besten?
Die Arie war zu Ende. Das Publikum applaudierte frenetisch. Auch Aurelia. Niemals, dachte sie. Es wird dafür niemals den richtigen Zeitpunkt geben.
K
apitel 9
»Stell dir vor, Carmella wird heiraten!«, sagte Aurelia betont fröhlich zu Enrico, nachdem sie in der Pause auf den weich gepolsterten roten Samtsesseln des Theaterrestaurants Platz genommen hatten. Sie fächelte sich mit dem Programmheft Luft zu. Nicht etwa, weil es besonders warm war, nein, es lag an dem Thema, das sie nun anschneiden würde. Sie ließ den Blick durch den herrlichen Raum wandern. Über der Bar aus poliertem Mahagoni funkelte ein breiter, mit Blattgold verzierter Spiegel, und an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein in Rot- und Blautönen gehaltenes Fresko im Renaissance-Stil, auf dem Putten mit Harfen und Trompeten einen himmlischen Chor bildeten. Aurelia faszinierte die besondere Auffassung von Zeit, die in diesen Fresken zum Ausdruck kam. Aufeinanderfolgende Geschehnisse wurden zeitgleich nebeneinander dargestellt, jede Zeitstufe war auf ewig präsent. Das Motiv des himmlischen Chors setzte sich auf dem weißen Stuckrahmen der Decke fort – noch mehr Putten, Engel, Granatäpfel und Weinreben. Reinste italienische Dekadenz …
Enrico schwärmte von dem Orchester. Er war gut aufgelegt. Also konnte sie ihn ebenso gut jetzt gleich fragen.
Er blickte sie an (misstrauisch? Sie war sich nicht sicher). »Dann werden wir die nächsten Monate von nichts anderem mehr hören«, prophezeite er brummig. »Du wirst schon sehen.«
Kein guter Einstieg, dachte Aurelia. Sie lauschte auf das leise Stimmengewirr an den Nachbartischen. Elegant gekleidete Menschen, die ihre Freizeit genossen. Die Frauen hatten sich dem Anlass entsprechend herausgeputzt – Aurelia bewunderte dieses Gespür für die richtige Kleidung, das den Italienern anscheinend in die Wiege gelegt war – und trugen kurze schwarze Cocktailkleider oder lange, glamouröse Roben, dazu ein lässig über die Schulter oder den Oberarm drapiertes Cape oder eine Stola. Die Füße steckten in hochhackigen Riemchenpumps. Bei den Männern dominierten gut geschnittene Anzüge, Hemd und Krawatte. Enrico trug einen Armani-Anzug von zeitloser Eleganz.
Sie holte tief Luft. »Elena und ich haben neulich ein wenig geplaudert«, begann sie.
»So?«
»Und sie dachte …« Nein, das war nicht genug. Nicht wirklich das, was sie Elena versprochen hatte. »Das heißt, wir dachten …«
»Ja?«
Noch nie war Aurelia in Enricos Gegenwart so nervös gewesen. In ihrer Beziehung hatte immer sie die Grenzen gesetzt (Ich kann dir eine Freundin sein, aber ich bin nicht frei, um dich zu lieben … Ich werde bei dir einziehen, aber ich weiß nicht, wie viel ich dir geben kann … Ich werde dir zuhören, aber du wirst nicht alles von mir erfahren). Und sie hatte ihn nie wirklich um etwas gebeten. Er hatte ihr alles angeboten, sein Haus, seinen Körper, sogar einen Heiratsantrag hatte er ihr gemacht. Und sie hatte zumindest einiges davon angenommen. Doch sie hatte nichts verlangt – darauf legte sie Wert. Und nun, da sie ihn um etwas bitten wollte, wirkte er eher … abweisend.
»Wir haben überlegt, dass es doch ganz nett wäre, wenn die Hochzeitsfeier in La Sirena stattfinden könnte«, fuhr sie eilig fort. Nun war es heraus. Wovor hatte sie Angst gehabt? Alles, was passieren konnte, war, dass er Nein sagte.
»Nein«, erwiderte Enrico.
»Nein?«
»Wie könnte so etwas nett sein?« Enricos Miene spiegelte ungläubiges Erstaunen wider. Er sah sie an, als sei sie nicht ganz bei Trost. Und das nicht zum ersten Mal, wie Aurelia auffiel.
»Es würde so einen herrlichen Rahmen abgeben«, entgegnete sie. »Und es ist ausreichend Platz. Es wäre …« Sie dachte an Elena. »Perfetto.«
Enrico nippte an seinem Whisky. »Für wen genau?«, wollte er wissen.
Das war einfach. »Für die Braut, für den Bräutigam, für alle Gäste.« Sie beugte sich vor. »Für Elena.«
Er quittierte ihren Erpressungsversuch mit einem fast
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