Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Mutter zu zeigen. Fotografien. Entsetzliche Bilder vom Leben auf der Straße. In Schwarz-Weiß: ein Platz zum Schlafen und eine Handvoll Essen, das Leben und der Tod …
Es gab mehrere Schnappschüsse von einer Prostituierten, die an dem kitschig-bunten Eingang zum Palace Pier stand. Sie trug ein knappes Top mit Leopardenmuster, das kaum die Brüste bedeckte, und hatte eine Zigarettenkippe zwischen den grellrot geschminkten Lippen. Gelangweilt wartete sie auf den nächsten Kunden. Der vorherige hatte ihr die Netzstrümpfe zerrissen, und eigentlich reichte es ihr für heute. Willkommen im Haus der Freuden … Tasmin war – irgendwie – ganz nah an die Frau herangekommen. Cari berührte der leere Blick der Prostituierten. Er schien zu sagen: Das ist der Letzte für heute Nacht . Ein Blick, den man unmöglich vergessen konnte.
Die nächsten Schnappschüsse zeigten einen Mann mit fettigem, verfilztem Haar, der unter einem Umhang lag und ins Nichts starrte. Im Hintergrund war die aus Glas und Metall bestehende Fassade des Bahnhofs zu erkennen. Das Leben ist eine Reise, du gehst deinen Weg und ich meinen. It ain’t no use to sit and wonder why . Sinnlos, herumzusitzen und sich zu fragen, warum. Neben ihm lagen eine Kappe, aus der er die erbettelten Münzen bereits herausgenommen hatte, ein vernachlässigt aussehender Hund und ein Stück rauchgeschwärzte Silberfolie. Auf einem anderen Foto nahm er gerade einen Schluck aus einer Flasche – ob Bier, Cidre oder Brennspiritus, wer konnte das schon sagen. Er wirkte verzweifelt, Flüssigkeit und Spucke liefen ihm über das stopplige Kinn.
Cari hatte noch mehr Motive entdeckt: eine Obdachlose, die einen mit prallen schwarzen Mülltüten beladenen Einkaufswagen durch die Straßen Brightons schob. Sie wühlte in den Abfallkörben und schob ihn dann weiter. Schob und wühlte. Sie nahm den Einkaufswagen überall mit hin. Er war Teil von ihr. Jeder kannte sie. Keiner kannte sie wirklich.
Der Hintergrund der Fotos wechselte und blieb dennoch immer gleich: die Innenstadtstraßen in der Nähe des Bahnhofs, die Nachtcafés mit ihren beschlagenen Fenstern und fleckigen Tischen, der Strand unter dem Pier, die Spelunken. Und vor dieser Kulisse agierten die Verlorenen und Heimatlosen, die Alkoholiker und die Verzweifelten, die Junkies und die Selbstmörder. Menschen, die innerlich leer waren. Deren Leben alle Farbe verloren hatte. Auf unzähligen Rollen Schwarz-Weiß-Film hatte Tasmin sie festgehalten. Und sie hatte diese Menschen mit einer Ehrlichkeit gezeigt, die fast brutal wirkte – es lag an den scharfen Kontrasten und der Strenge der Komposition, den kompromisslosen Blickwinkeln und den dunklen Schatten.
»Jesus wandte sich ab und weinte bitterlich.« Edward blätterte in dem Stapel. »Wann hat sie diese Fotos gemacht?«
Cari zuckte die Achseln. Wie das Tagebuch waren die Fotos ein weiterer Hinweis auf etwas, was sie nicht akzeptieren wollte – dass sie ihre Mutter kaum gekannt hatte. Sie war ihre Tochter, war unter ihrer liebevollen Obhut aufgewachsen, doch alles, was sie von Tasmin wusste, war der winzige Teil, den Tasmin ihr zugänglich gemacht hatte. Aber nichts vom Rest. Nichts von dem hier. Nichts von dem, was Cari als die wahre Tasmin, die Essenz ihrer Persönlichkeit erschien – die Fotografin, die von den Schattenseiten des Lebens in ihrem direkten Umfeld so betroffen gewesen war, dass sie das Bedürfnis gehabt hatte, sich damit zu beschäftigen. In dieser Arbeit steckte Tasmins Herzblut.
»Wir müssen diese Fotos ausstellen«, sagte Edward.
»Bitte?« Cari warf ihm einen Blick zu. Er wusste doch ebenso gut wie sie, wie sorgsam ihre Mutter ihre Privatsphäre geschützt hatte.
»Wir müssen, Cari.« Er wurde ganz aufgeregt. »Sie sind verdammt gut.«
Sie begann die Fotos einzusammeln. »Nein«, erwiderte sie.
»Nein?«
»Wenn sie gewollt hätte, dass sie gezeigt werden, hätte sie dafür gesorgt, solange sie lebte.« Allerdings konnte sich Cari kein sicheres Urteil mehr über die Wünsche und Beweggründe ihrer Mutter erlauben.
»Sie sollten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden«, beharrte Edward. »Eine posthume Ausstellung.« Er zog das Foto eines Obdachlosen heraus, der sich mit einer Spritze in der Hand vor einer Tür herumdrückte, und wedelte damit vor ihrem Gesicht herum. »Damit sich die Menschen Gedanken über die Schattenseiten des Lebens machen. Und um der Welt Tasmins Talent zu offenbaren.«
Der Welt? Caris Ansicht nach überschätzte
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