Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
schlechte Nachrichten, Enrico ist überhaupt nicht begeistert« –, wobei sie sich darüber gewundert hatte, wie gut auch sie die typisch englische Fähigkeit des Understatement beherrschte. Sie hatte das Haus geputzt, was eigentlich unnötig war, da Rosa demnächst kommen würde, aber diese sah sie mit ihren braunen Augen immer so durchdringend an, dass sich Aurelia wie eine schlechte Hausfrau fühlte, wenn sie nicht wenigstens etwas tat. Nach einem Nickerchen hatte sie mit Enrico das von Rosa vorbereitete Abendessen eingenommen, und nun saß sie hier und benahm sich wie die sprichwörtliche englische Exzentrikerin, für die alle sie wahrscheinlich hielten. Saß zwischen den wachsenden Schatten inmitten der Jasmin- und Oleanderbüsche auf der geschwungenen Bank aus Olivenholz und malte wie besessen, fast wie in Trance.
Mit dem Finger vermischte sie die Farben. Hier draußen fühlte sie sich so wunderbar frei. Die Ölfarben hatten ihrem Gemälde mehr Aussagekraft verliehen, und sie verspürte eine Art Freiheit in der Bewegung, eine nie gekannte Leichtigkeit, die aus der Schulter über ihren Arm in die Hand strömte und sich auf die Pinselspitze übertrug. Aus der Ferne hörte sie Enrico Klavier spielen. Demnach war er mit der Buchführung fertig. Aber nach dem zu schließen, was er Beethovens fünftem Klavierkonzert antat, schien sich seine Laune nicht gebessert zu haben. Und wer konnte ihm das verübeln? Warum sollte er sein Haus den stranieri öffnen, warum sollte er Fremde und Familienmitglieder einlassen, die achtlos über seine hellen Teppiche trampeln, Tomatenstücke auf dem cremefarbenen Ledersofa zerdrücken, Asche ins Basilikumbeet schnippen und farfalle in den Swimmingpool fallen lassen würden? Fremde, die in seine sorgsam gehütete Privatsphäre eindrangen. Nein … Aurelia rührte mehr Farbe an, sie liebte die dickflüssige, satte Konsistenz, den beißenden Geruch, das Terpentin, das Prickeln in der Nase. Nein, sie konnte es ihm nicht verübeln, überhaupt nicht.
Immer noch drang die Musik durch die Dämmerung. Die Sonne war am Horizont verschwunden und hatte nur einen schmalen Streifen aus Kupfer und Gold hinterlassen, und die an den Rändern scharlachrot glühenden Wolken ähnelten einem Meer rosafarbener Zuckerwatte … Sonnenuntergang in Ligurien.
Und in England? Über welcher Szenerie wohl die Sonne in England unterging? Aurelia fuhr mit kräftigen Pinselstrichen über die Leinwand. Hatte sie wirklich fortgehen müssen? Oder hätte sie schon früher fliehen und Tasmin mitnehmen sollen? (Und wenn Tasmin nicht mitgewollt hätte? Ach, Kinder gewöhnen sich rasch ein. So einfach ist das.) Oder hätte sie Richard verlassen, aber in England bleiben sollen?
Warum schlagen wir einen bestimmten Weg ein? Hier war der passende Ort, um über diese Frage nachzudenken, in diesem engen Labyrinth, in dem jeder neue Pfad genauso aussehen konnte wie der, den man gerade hinter sich gelassen hatte. Aurelia beugte sich hinüber zu dem südländischen Matrosen und strich über seinen grau-grün gemaserten Kopf. Welche Wege hatte er gewählt? Sie wünschte, sie wüsste es. Und was sie selbst betraf … Was wäre von ihrer Persönlichkeit übrig geblieben, wenn sie nicht gegangen wäre? Richard hatte zerstörerisch auf sie als Mutter und Frau gewirkt. Welchen Preis hätte sie für die Selbstaufopferung zahlen müssen?
Eine sanfte Brise, die durch die Oleanderzweige strich, lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Bild. Der Schatten … Sie fügte den Farben auf der Palette eine Spur Schwarz hinzu. Dunkler. Es musste dunkler sein. Gierig atmete sie den Duft des Jasmins ein. Nie konnte sie genug davon bekommen.
Und wenn sie schon früher fortgegangen wäre, wann hätte das sein sollen? Als er sich geweigert hatte, seine Eltern zur Hochzeit einzuladen? (»Ich bin in Gedanken bei ihnen …« – »Sie würden sich hier fehl am Platz fühlen …« – »Du kennst sie nicht, wie ich sie kenne, mein hinreißendes Mädchen …«) O ja, damals war es nicht schwer gewesen, das zu glauben. Aber wer schämte sich schon seiner eigenen Eltern?
Sie lehnte sich zurück und blinzelte. Richard. Er hatte sich geschämt. Bert und Nancy waren nett und umgänglich – jedoch durch und durch Arbeiterklasse. Eine ernste Bedrohung für Richards Glaubwürdigkeit. Ein vollendeter Schauspieler konnte sich immer wieder neu erfinden. Ein vollendeter Schauspieler konnte seinem Publikum jeden auch noch so kleinen Zweifel nehmen. Und er besaß
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