Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
die Fähigkeit, mit seiner Rolle zu verschmelzen.
Oder hätte sie vielleicht gehen sollen, als sein Alkoholkonsum außer Kontrolle geriet? Sie wählte einen dickeren Pinsel, um die Farbe satt auftragen zu können. Als der Whisky Krieg bedeutete? Oder vielleicht, als ihre Eltern starben und sie erkannte, weshalb der geldgierige Richard sie geheiratet hatte … Oder vielleicht, als er seine erste Affäre hatte …
Das Bild nahm Form an. Ja, so passte es. Aurelia hielt inne. Es war Zeit aufzuhören, es ins Atelier zu bringen und dort die Feinarbeit vorzunehmen. Erschöpft ließ sie sich gegen die hölzerne Lehne sinken.
Und wenn sie Richard verlassen hätte, jedoch in England geblieben wäre? Aber dort hätte er immer noch Macht über sie ausgeübt, sie musste weit fort. Sie hatte geglaubt, dass Tasmin sich ihr anschließen würde. Doch damit hatte sie Richards Einfluss auf die Tochter, die sie beide liebten, ernsthaft unterschätzt. Aurelia war erst siebenundvierzig gewesen. Italien hatte ihr die Chance auf einen Neuanfang geboten. Sie hatte das Gesicht ihrer Matrosenskulptur betrachtet, Ruths Argumenten gelauscht und gespürt, dass Italien sie lockte. Sie hatte wieder die Stimme ihrer Großmutter gehört, die von Freiheit sprach, und erkannt, dass sie ihr Gefängnis in Hertfordshire nur gegen ein anderes in Brighton eingetauscht hatte. Was für eine Ironie!, dachte Aurelia jetzt, dass Richard einst meine Gelegenheit zur Flucht verkörpert hat. Und das musste ausgerechnet mir passieren, die so oft über die Ehe ihrer Eltern nachgegrübelt und sich gewundert hat. Warum war Mary wohl geblieben? Wie konnte sie einem Mann die Treue halten, der sie tyrannisierte und seiner Frau alles verweigerte, was ihr wichtig war? Niemals hätte sie, Aurelia, gedacht, dass sie wie ihre Mutter in eine Falle geraten könnte – wie die Libelle, die in der Zeit gefangen, im Bernstein eingeschlossen war. Aurelia hatte es so lange für eine Schwäche ihrer Mutter gehalten – die Entscheidung, sich dem Mann um eines friedlichen Lebens willen unterzuordnen. Mary hatte getan, was er verlangte, und sich dabei nach und nach in ihre schlechte Gesundheit geflüchtet. Sie wurde so zart wie ein Schneeglöckchen, das gar zu schnell verblühte.
Erst jetzt, so schien es, konnte sie Hugh und Mary mit anderen Augen sehen. Wie war es zu diesem Ungleichgewicht in der Beziehung gekommen? Und welche Möglichkeiten hatte Mary als Ehefrau und Mutter in den Zwanziger- und Dreißigerjahren tatsächlich besessen, als es ihr noch gut genug ging? Wie unmöglich musste ihr ein Ausbrechen erschienen sein? Wie viel Wut mochte in Mary geschlummert haben, überdeckt von der Traurigkeit, die Aurelia immer gespürt hatte?
Sie, Aurelia, war jedenfalls wütend gewesen, als sie noch mit Richard verheiratet war, und sie war auch jetzt wütend. Stellvertretend für ihre Mutter, für alle Frauen. Manchmal loderte der Zorn ganz plötzlich in ihr auf. Und vielleicht war es die Erinnerung an ihre Mutter gewesen, die sie schließlich zum Handeln gedrängt hatte. Ich werde ausbrechen. Ich werde frei sein. Sie musste fort. Aber wie ließ sich eine achtzehnjährige Tochter dazu zwingen mitzugehen? Richard liebte Tasmin. Richard würde sich um sie kümmern. Tasmin. Ach, Tasmin …
Sie hätte zwischenzeitlich nach England zurückkehren können. Sie hatte Tasmin lange Briefe geschrieben, und sie hätte zurückgehen können, wäre auch zurückgekehrt, wenn da nicht dieser eine Brief gewesen wäre, den Tasmin ihr als Antwort geschickt hatte. Aurelia begann ihre Malsachen zusammenzupacken. Es wurde zunehmend dunkler. Die von Düften gesättigte Nacht war still bis auf ein gelegentliches Motorengeräusch, das von der Küstenstraße herüberdrang, und das Rauschen der einsetzenden Flut.
Wage bloß nicht, mich wiederzusehen zu wollen! , hatte ihre Tochter geschrieben. Falls du es versuchst, bringe ich mich um, das schwöre ich dir. Und komm ja nicht zurück! Wie hatte sie deswegen geweint! Ruth hatte sie damit zu beruhigen versucht, dass es sich um die Reaktion einer hysterischen Achtzehnjährigen handelte. Sie solle sich das nicht so zu Herzen nehmen, Tasmin ein, zwei Jahre Zeit geben …
Aber Aurelia erinnerte sich an den Gesichtsausdruck ihrer Tochter, als sie den Bernsteinanhänger durchs Zimmer geschleudert hatte. Aus ihrem Blick hatte blanker Hass gesprochen. Sie hatten beide zugesehen, wie der Anhänger unters Sofa schlitterte. Am liebsten wäre Aurelia hingestürzt und hätte
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