Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
den Sinn gekommen. Es gab vieles, was sie damals nicht erkannt hatte – beispielsweise, was für ein Mann er wirklich war, was sich hinter dieser Stimme, den Berührungen und den klugen Augen des Schauspielers verbarg.
Es war auf einer dieser Partys in Brighton passiert, auf der sich das glamouröse Künstler- und Theatervolk tummelte, mit dem er sich immer umgab, Bohemiens, die zu viel tranken, viel und laut lachten, sich einander ständig küssten und »Schätzchen« nannten. Die Frauen hatten scharlachrot geschminkte Lippen und rubinrot lackierte Fingernägel. Sie trugen auffälligen Schmuck mit großen Steinen, wehende Schals und knappe Blusen. Auf ein unerfahrenes Mädchen aus Hertfordshire, das in seiner Jugend vor allem die kranke Mutter gepflegt und unter der Strenge des Vaters gelitten hatte, wirkten sie gewagt, gefährlich und unglaublich faszinierend. Aurelias Bewunderung hatte keine Grenzen gekannt.
Sie drehte und schwamm in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Das Meerwasser liebkoste ihre Haut, ganz wie Richards Stimme damals. Mit den Worten »Das ist mein hinreißendes Mädchen« hatte er sie jenen vorgestellt, die sie noch nicht kannten. Und wie stolz war sie gewesen! Er hatte solches Charisma. Er war etwas Besonderes.
Freundlich hatten sie Aurelia in ihrer Mitte willkommen geheißen. Sie hatte mit ihnen gegessen und gelacht, sich jedoch tief im Innern gefragt, was wohl ihr Vater sagen würde, wenn er wüsste, wo sie war und was sie gerade tat … Sie hatte Richard mehrmals in Begleitung von Ivy in Brighton getroffen, bis sie an jenem Abend zum ersten Mal allein gekommen war. Das hatte aufregende, aber auch beängstigende Möglichkeiten bedeutet, als er sie zum Hotel zurückbegleitete.
Komm, leb mit mir, und sei meine Liebste! Die Worte hallten nun in Aurelias Kopf wider und vermischten sich mit dem Kreischen eines Seevogels und dem sanften Rauschen der heranrollenden Flut. »Komm, leb mit mir, und sei meine Liebste!« Die Wellen schienen sich über sie lustig zu machen.
Als Richard diese Gedichtzeile zitiert hatte, hatte sie erst einmal nach Luft geschnappt und dann die Hand vor den Mund geschlagen und ohne nachzudenken gesagt: »Vater wird aus der Haut fahren.«
Natürlich hatten alle gelacht. Was war sie nur für eine dumme Gans gewesen! So eine idiotische Antwort zu geben, als wäre sie noch ein kleines Mädchen. Dabei war sie damals einundzwanzig, eine erwachsene Frau.
Am längsten hatte eine blonde Schauspielerin namens Janey gelacht. Sie war Aurelia gegenüber stets besonders nett gewesen, aber der eisige Ausdruck in Janeys Augen hatte Aurelia verraten, dass sie es hier in Wirklichkeit mit einer Feindin zu tun hatte. Schlangengleich wand sich Janeys weißer Arm stets um Richards Schultern. Zwar gefiel das Aurelia nicht, doch diese körperliche Intimität schien für alle so natürlich, so selbstverständlich zu sein, dass Aurelia sie darum beneidete.
»Schätzchen«, spottete Janey. »Natürlich darfst du sie auf keinen Fall einem solchen Vater aussetzen.« Abschätzend sah sie Aurelia an. »Du musst das Mädchen heiraten.«
Aurelia hatte ebenfalls versucht zu lachen, obwohl es ihrer begrenzten Erfahrung nach kein Thema war, über das man Witze machte. Aber Richard war schon aufgesprungen und hatte galant ein Knie vor ihr gebeugt.
»Heirate mich, meine Aurelia!«, hatte er gesagt, als befände er sich immer noch auf der Bühne. »Heirate mich, und sei meine Liebste!«
Janeys Lachen klang plötzlich unsicher. Ihr dämmerte wohl, dass der Witz nach hinten losgegangen war.
Hatte Richard es ernst gemeint? Aurelia hatte keine Ahnung gehabt. Sie hatte ihn angestarrt, denn sie wollte nicht schon wieder etwas Dummes, Unüberlegtes sagen. Doch sie war so verliebt gewesen …
Sie war zu weit geschwommen. Sie befand sich in der Nähe der Felsen, aber zu weit draußen. Hier lauerte die tückische Strömung, die auch gute Schwimmer erfassen und hinaus ins offene Meer ziehen konnte. Jetzt war Vorsicht geboten. Man brachte sich in Gefahr, wenn man dem Meer nicht mit gebührendem Respekt begegnete. Und da war etwas … Eine Erinnerung an etwas lang Vergangenes regte sich. Aus einer anderen Zeit, an einem anderen Meer …
Ach, egal! Aurelia wandte sich wieder Richtung Küste, trat Wasser und genoss dabei die Dünung des Ozeans, bis sie ins seichte Wasser gelangte, wo sie stehen konnte und den groben Sand unter den Füßen spürte. Langsam watete sie an den Strand zurück, die Beine
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