Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
ständig an den Schauspieler Richard Banks denken. Er hatte nach der Vorstellung ein wenig mit ihnen in der Bar geplaudert und gesagt: Kommen Sie doch und sehen Sie sich noch ein anderes Stück an, wenn Sie das nächste Mal in Brighton sind. Ja, kommen Sie doch einfach vorbei und melden Sie sich … Aurelia hatte das Gefühl gehabt, es sei mehr als eine höfliche Floskel und insbesondere an sie gerichtet gewesen.
Sie wollte ihn unbedingt beim Wort nehmen. In Brighton einen Schauspieler ausfindig zu machen würde zwar der Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen gleichkommen, doch sie musste es einfach tun. Er verkörperte etwas, wonach sie sich sehnte, und wenn nötig, würde sie darum kämpfen. Vielleicht war sie ja verrückt. Aber wenn sie nicht nach ihm suchte, würde sie sich immer fragen, was hätte sein können.
Sie würde mit Ivy nach Brighton fahren und alles nach ihm abklappern: die Bühnen, die Piers und die Strandpromenade. Sie hatte sich den Namen seiner Schauspieltruppe aufgeschrieben – es musste doch möglich sein. Sie würde nach Richard suchen und für ihre Freiheit kämpfen. Und in ihrem Traum wurden Richard und die Freiheit zu einem Liebespaar, das sich, die Körper ineinander verschlungen, über sie und ihre Erinnerungen lustig machte.
Als Aurelia früh am Morgen erwachte, war Richard noch immer präsent, seine tiefe, tragende Stimme hallte in ihren Ohren wider, und der für ihn typische Geruch nach Rasierwasser und Theaterschminke schien an ihrem Kopfkissen zu haften. Verdammt!
Um auf andere Gedanken zu kommen, trank sie etwas Saft und ging hinunter in die Bucht zum Schwimmen, als könne sie Richard von sich abwaschen. Je länger sie jedoch im morgendlich kühlen, erfrischenden Wasser des Golfs von La Spezia schwamm, desto mehr musste sie an Richard denken. Warum hatte sie sich damals in ihn verliebt? Wenn sie diese Frage beantworten könnte, würde sie sich vielleicht endlich verzeihen.
Sie drehte sich auf den Rücken und ließ sich treiben, ließ sich von den Wellen schaukeln und wiegen wie ein Kind. Es war letztendlich kein Problem gewesen, Richard in Brighton ausfindig zu machen; Ivy und sie hatten das Plakat schon voller Begeisterung bei ihrer Ankunft am Bahnhof entdeckt. Es war auch nicht weiter schwierig gewesen, nach der Vorstellung seine Aufmerksamkeit in der Bar zu erregen. Richard war ein Chamäleon, er hatte so viel Charme. Er schien sie sofort wiedererkannt zu haben, sie hatten sich unterhalten, er hatte ihr Abendessen bezahlt, und als sich Aurelia und Ivy an jenem Abend von ihm verabschiedeten, herrschte bereits ein gewisses stillschweigendes Einverständnis. Sie hatte ihm von ihrer Familie erzählt und wusste – so unglaublich es auch war –, dass sie ihn beinahe ebenso faszinierte wie er sie.
Mit sanften Bewegungen trat Aurelia Wasser und genoss das seidige Gefühl an ihren Schenkeln. Nun wurde ihr klar, warum sie sich in ihn verliebt hatte: weil er anders war als alle Männer, die sie je kennengelernt hatte. Er war ein Verführer. Seine Stimme konnte sowohl zärtlich schmeicheln – wie am Anfang ihrer Beziehung – als auch einschüchtern. Und er besaß Präsenz; er war ein Mann, der beim Betreten eines Raums unweigerlich die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog. Aurelia kniff die Augen zu, da ihr die aufgehende Sonne bereits warm ins Gesicht schien. Und wie Richard es genossen hatte, aufzufallen, angebetet zu werden! Wie Richard sein Publikum geliebt hatte!
Träge drehte sich Aurelia wieder auf den Bauch und schwamm mit weit ausholenden Zügen in Richtung Tellaro. Die Fischerboote liefen mit ihrem Fang ein. Die bunt gestrichenen Häuser im Hafen und die Mauern der Barockkirche leuchteten in der Sonne. Aurelia meinte, den Geruch nach Salz und Fisch, nach Netzen und glitschigen Schuppen wahrzunehmen. In der Ferne erhoben sich Byrons sanft terrassierte Hügel, die mit Olivenbäumen und Rebstöcken bepflanzt waren; in morgendlichen Dunst gehüllt, erwachten die silbriggrauen Olivenhaine zu einem weiteren sonnigen Frühlingstag. Es war noch nicht acht Uhr, aber der italienische Arbeitstag hatte bereits begonnen. Man stand früh auf, um möglichst viel bei angenehmen Temperaturen zu schaffen, bevor man die in Italien übliche dreieinhalbstündige Mittagspause einlegte.
Ja, dachte sie, Richard hat sein Publikum geliebt. Und zwar so sehr, dass er sogar seinen Heiratsantrag vor Zuschauern gemacht hat. War das unfair, so zu denken? Damals wäre ihr das nicht in
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