Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
hohen weißen Decken und Jalousien vor den Fenstern. Aurelia nickte. Hier gehörte sie hin. Auch wenn sie nicht wusste, warum. Sie spürte, dass dieser Ort für sie bestimmt war – aber weshalb? Weshalb sollte sich eine Engländerin in Italien zu Hause fühlen? Weshalb empfand sie so intensiv, dass sie genau hierher gehörte? Und wenn es tatsächlich so war, weshalb konnte sie es Enrico dann nicht zeigen? Weshalb war es ihr nicht möglich, Vergangenes zu vergessen und ihn so zu lieben, wie er es verdiente?
Enrico und sie müssten schon längst auf dem Weg zu Elenas spätem Abendessen sein. Dennoch trödelte sie herum. Obwohl Elena durch und durch Italienerin war und sich gänzlich der heimischen Küche verschrieben hatte, war sie von der Tradition – pranzo unmittelbar nach zwölf Uhr mittags, Abendessen um sechs – abgerückt und servierte zahllose Gänge, was angesichts der vorgerückten Stunde gar nicht angebracht war, sodass man einen Grappa oder einen anderen digestivo benötigte, um die Verdauungssäfte zu beruhigen.
O weh, es war schon reichlich spät! Sie musste sich noch umziehen – irgendeine elegante Hose, in Schwarz am besten, und natürlich Schuhe.
Aber Aurelia rührte sich nicht vom Fleck, sondern starrte in die Ferne, in der sich die Umrisse der Berge abzeichneten, und dachte an Tasmin. Vielleicht würde sie es ja eines Tages verstehen. Vielleicht … eines Tages … Viel zu viele ihrer Überlegungen begangen mit diesen Worten … Vielleicht würde sie ihre Tochter wiedersehen. Vielleicht würde sie ihr eines Tages schreiben.
Unwiderstehlich vom Wasser angelockt, ging Aurelia über die knirschenden Kiesel, bis sie dem feinen Sand wichen. Wie nasse Zungen leckten die Wellen sanft an ihren nackten Füßen. Aurelia richtete den Blick zum Horizont. Jenseits der Bucht glänzten die nassen schwarzen Felsen in der Brandung. An der äußersten Spitze der Landzunge, an der Barockkirche, schimmerte ein Licht, das Aurelia als die alte Laterne erkannte, die an die Steinmauer aus rosa Granit montiert war. Hinter dem Dorf erhoben sich die dunkleren Schatten der Hügel. Die Olivenhaine und Weinberge, mit denen sich Enricos Familie einst den Lebensunterhalt verdient hatte, konnte sie nicht erkennen.
Sollte sie nach England zurückkehren? Um die Tochter ausfindig zu machen und ihr zu sagen: Das hat jetzt schon viel zu lange gedauert. Viel zu lange …
Schneidend kühl brannte das Wasser auf ihrer Haut, während der nasse Sand sich an ihre Sohlen heftete. England. Aurelia fröstelte, als hätte man sie an einem kalten, zugigen Februartag dorthin zurückgebracht.
Enrico meinte, eine Rückkehr komme nicht in Frage. »Du hast ihr doch alle Türen offengelassen, cara «, sagte er. »Sie muss den Schritt selbst tun, falls sie sich dafür entscheidet.«
Aurelia seufzte. »Und was ist, wenn …«
»Wenn sie sich dafür entscheidet«, wiederholte er. »Du hast dein Möglichstes getan.«
Die Arme vor der Brust verschränkt, atmete Aurelia die salzige Luft ein. Die See war heute ruhig.
Hatte sie wirklich alles getan, was in ihrer Macht stand?
Es wurde allmählich kalt. Aurelia wandte sich um, ging zur Steintreppe zurück und schlüpfte in ihre Sandalen. Enrico würde sich schon Sorgen machen. Vermutlich saß er am Flügel – sie glaubte sogar, dass sich in das Zirpen der Grillen eine Melodie mischte. Bestimmt war er trotz des Klavierspiels in Gedanken bei ihr. Behutsam öffnete sie das vertraut quietschende Gartentor, um die schweren Blüten der Glyzinie nicht einzuklemmen, und lief über den Sandweg auf das Haus zu.
Als sie an dem Labyrinth vorüberkam, hörte sie einen ungewohnten Laut. Ein Knacken. Vielleicht ein zertretener Zweig? Sie blieb stehen und lauschte. Sie hatte sich bereits an die Geräusche aus dem Irrgarten gewöhnt. Enrico lachte sie deswegen zwar aus, aber sie war schon seit langem der Überzeugung, dass von dem Labyrinth eine ganz besondere, spirituelle Kraft ausging. Dieses Geräusch war ihr allerdings fremd. Es klang beunruhigend.
»Wer ist da?«, rief sie und blickte suchend zu den Oleander- und Jasminbüschen. Der betäubende Duft des hellgelben Jasmins stieg ihr in die Nase. »Kommen Sie sofort heraus!« Wie lächerlich diese Worte klangen! Ob man heraushörte, dass sie mit dieser Aufforderung ihre Angst überspielte?
Keine Antwort. Niemand. Aurelia war zwar nicht überzeugt, aber es wurde zunehmend dunkler, und das erleuchtete Haus und Enrico, der ein schnelleres Tempo anschlug,
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